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Geburt 07

Geburt

Wohin immer die Rede steuert oder die Schreibe, die Sonntagsweisheiten sind bei diesem einen Gegenstand noch viel schwerer zu meiden als bei so manchem andern. Da haben es Filmemacher besser, und Haselbeck und Langjahr, selber Mutter und Vater, machen sich den Vorteil zunutze, zeigen zu dürfen ohne belehren zu müssen.

Text: Pierre Lachat / 01. Sep. 2009

Geboren werden wir zwischen Fäkalien und Urin. Inter urinas et faeces nascimur. So beschrieb ein Römer, der das Kind beim Namen nannte, die stubenunreinen Realitäten. Die Substantive, die er wählte, haben sich so wenig geändert wie die Substanzen selbst. Gewiss, Geburt von Silvia Haselbeck und Erich Langjahr visiert von der Haut auch die Unterseite an. Über dem gewölbten Leib tasten Hände nach dem herangedeihenden Fötus und seinem pränatalen Gestrampel. Strahlen bringen das unsichtbare Geschöpf auf dem Bildschirm schemenhaft zum Vorschein. Mikrofone erlauschen seine Herztöne.

Aber häufiger rückt die Kamera geradewegs auf die Pelle drauf, das Organ der Organe, um jene magische, rätselhafte, vielgestaltige, poröse Membran zu studieren, die zugleich abdichtet und absondert. Wie der endlos anpassungsfähige Gott Proteus deckt sie auf und deckt ab, reflektiert und absorbiert, dehnt sich aus und zieht sich zusammen, glättet und runzelt, schmiegt sich an und hängt durch, behaart und entblösst sich, feuchtet und trocknet, hellt auf und dunkelt ein, duftet und stinkt, wird blessiert und heilt wieder. Sie ist die Mutter aller Oberflächen, und die Kreaturen müssten ohne sie kläglich in ihre Körperteile auseinanderfallen.

Auf diesem Pergament ist der Verlauf eines ganzen Lebens verzeichnet, ob kurz oder lang. Das Neugeborene kann einem vorkommen wie unbeschrieben: scheinbar vergreist und doch frisch ab Wochenbett. Bezeichnenderweise heisst es auch Balg, was wiederum so viel bedeutet wie Epidermis. In der Haut steckt einer entweder wohlig drin, oder er fährt aus ihr heraus. Wer das Licht der Welt erblickt, dem hat die Dunkelheit behagt, und jetzt geniesst er die Befreiung daraus.

Geburt 04

So handelt Geburt von der Materie, der ganzen Materie und nichts als der Materie: auf, in und unter Pelz und Bauch, Herz und Lunge. Noch bevor sich das Dasein in Gefühl, Gespür, Wille oder Intellekt ausdrücken kann, umfasst es, für die Gebärende wie für das Geborene, zunächst einmal das: Körperlichkeit und Animalität samt den vererbten Reflexen. Gerade Mütter bezeichnen sich gern selbst und aus eigenem Erleben als Muttertiere und wollen den Vergleich als ironisch und keinesfalls als despektierlich verstanden wissen.

Gewiss, da herrscht die gute Hoffnung, und was immer auch geschieht, die Vorfreude, die Zuversicht und Zärtlichkeit der Eltern prägen die Atmosphäre. Die Frauen lassen’s wachsen, die Männer verzweifeln trotzig und etwas nutzlos beim Nordic Walking. Schwangerschaft und Geburt werden als eine Art Einbahnstrasse gedeutet: während der gesamten Periode bleibt der Blick auf den einen Tag gerichtet, und jeder Gedanke an eine Umkehr ist ausgeschlosssen. Dass alles, wie es gemeinhin heisst, gut geht, dafür gibt’s keinerlei Gewähr. Immerhin besteht eine solide Chance.

Doch dann sind da auch die schlaflosen Nächte, die Beschwerden, der Angstschweiss, die Schmerzensschreie, die Entkräftung und wohl auch die unausgesprochenen Zweifel. Nur Minuten nachdem er dem mütterlichen Schoss entschlüpft ist, besteht der erste Akt des Säuglings auf Erden darin, seine Erleichterung kundzutun, indem er direkt auf die nackte Brust der Gebärerin defäkiert. Jedes andere Wort wäre geheuchelt. Die schiere Seligkeit einer heil überstandenen Niederkunft bleibt davon allerdings unbehelligt.

Vom verhaltenen rhythmischen Stöhnen der Werdenden beim Üben des gleichmässigen, beruhigenden Atmens springt der schönste einzelne Schnitt des ganzen Films brüsk, schon fast brutal hinüber zu den viel heftigeren, zerrissenen, gequälten Lauten, die ihr bei den ersten Wehen entfahren, umflüstert von der Begleitung. Die Wirkung ist ähnlich wie die eines Sturzes ins kalte Wasser nach zuvor trainiertem Trockenschwimmen. Keine Vorbereitung scheint unnötig, und keine scheint ausreichend. Auch beim zweiten oder dritten Kind ist, im strikten Sinn des Wortes, eine Wiederholung des schon Gehabten unmöglich.

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Gerade weil das Thema mit verbreiteten und nachweisbar unbewiesenen Allerweltsbehauptungen förmlich geschwängert ist, fällt auf, wie vorsichtig die Filmemacher sich verhalten. Niemandem wollen sie die mindeste umstrittene Korrektheit unterjubeln, ob es nun um die Entscheidung zwischen der traditionellen und der zusammengewürfelten Familie geht, zwischen Elternpaaren und Alleinerziehenden, zwischen Heim- und Spitalgeburt, zwischen Befürwortern und Gegnern des Kaiserschnitts. Und ginge es auch nur um die unbeirrbar kolportierten Ansichten derer, die verzückt oder entmutigt schildern, wie paradiesisch beglückend oder, exakt umgekehrt, wie infernalisch mühselig es sei, Nachwuchs zur Welt zu bringen und aufzuziehen.

Wohin immer die Rede steuert oder die Schreibe, die Sonntagsweisheiten sind bei diesem einen Gegenstand noch viel schwerer zu meiden als bei so manchem andern. Da haben es Filmemacher besser, und Haselbeck und Langjahr, selber Mutter und Vater, machen sich den Vorteil zunutze, zeigen zu dürfen ohne belehren zu müssen. Eines liegt auf der Hand, das heisst zu nahe und kann kaum anders wirken als banal: der Film sieht selber aus wie eine Geburt. Dass alles, wie es gemeinhin heisst, gut gehen würde, dafür gab es keine Garantie. Immerhin bestand eine solide Chance. Und so abgedroschen es übrigens klingen wird, die Selbstvermehrung ist exakt so leicht, wie sie schwierig ist. Mehr noch, die Multiplikation entzieht sich jeder Berechnung.

Geburt 01

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/2009 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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