Filmbulletin Print Logo
Troubled water 08

Troubled Water

Text: Pierre Lachat / 13. Jan. 2010

Jahre ist es her, da soll Thomas einen unbeaufsichtigten Knaben entführt und ihn dann in einem Fluss ertränkt haben. Ans Ende seiner Strafzeit gelangt, kehrt Thomas jetzt nach Oslo zurück, festen Willens, das Vergangene für immer hinter sich zu lassen, nachdem die Affäre ihren einstigen Sensationswert sowieso schon verloren hat. Denn es scheint, als bleibe kaum noch etwas zu klären, es wäre denn, dass die Kindsleiche vermutlich in den Skagerrak geschwemmt, jedenfalls nie gefunden wurde.

Aber eine wirkliche Beilegung kann nur zu Stande kommen, indem alle damals Involvierten ganz an den Anfang des Geschehens zurückblenden. Um den Fluch eines ungnädigen Geschicks zu bannen, haben sie noch einmal durch die Verwirrung der Geister und das Leid der Seelen zu gehen. Wenn vor langem eine unwahrscheinliche Fügung eingetreten ist, dann braucht es bisweilen ein weiteres Vorkommnis von ähnlicher Art, um jene erste zu verstehen und vergessen zu lassen und sie im Idealfall ungeschehen zu machen, und sei’s nur symbolisch. Doch leider pausiert das Einmalige gern lange, ehe es seine Zweimaligkeit erweist und im Nachhinein, wer weiss, auch noch seine Vielmaligkeit, und schliesslich seine Banalität.

Schon nur der erzähltechnische Spagat, den Erik Poppe vollführt, macht aus Troubled Water ein absonderliches Stück Kino, was so gut wie gleichbedeutend ist mit norwegisch oder querköpfisch. Präsentiert sind die Elemente etwas gewunden, nahezu unbeholfen. Und doch findet dann das Ganze unerwartet zum bewährten KISS-Prinzip: «Keep it simple, stupid». Sieht es zunächst nach einer Stilübung oder einem launischen Spiel aus und sogar nach einer klassischen Tour de force, so überwindet der Film allmählich das gewollt Konstruierte, um narrativ und formal einen Tritt zu fassen, der verblüffend organisch wirkt. Dem Zufall belässt die Handlung seine notorische Blindheit, tut es aber auf eine Weise, die das Verhängnisvolle ins Plausible und Folgerichtige umbiegt. Und am Ende bleibt offen, was das wahrhaft Ausserordentliche gewesen sei: alles Gekünstelte wie stracks aus dem DrehbuchSeminar, oder im Gegenteil alles Sinnfällige.

Troubled water 05

Vergleichbares ist sicher schon erprobt worden, meistens erfolglos. Eine Fabel wird doppelspurig angelegt, doch um ein und dieselbe Intrige auf zwei verschiedene Touren erzählen zu können, ist es geraten, je die eine und die andere Lesart in unterschiedliche Perspektiven zu rücken. Die Praxis zeigt allerdings, dass die Methode etwas komplizierter anzuwenden ist als zunächst gedacht. Besonders leicht aus den Fugen gerät das Gefüge dann, wenn die erste Interpretation von der zweiten nur ergänzt und in Teilen korrigiert wird, statt schlicht und simpel in Abrede gestellt und damit erledigt. Spannung kommt auf, sobald die Stränge komplett über Kreuz geraten und die konkurrierenden Lesarten als in Teilen akkurat, in Teilen verfehlt erscheinen: jede von ihnen, heisst das, so inkonsistent wie die andere. Denn oft ist die Wahrheit mittendrin zwischen Irrtum und Lüge eingeklemmt, zwischen Reden und Schweigen.

Die Aufgabe besteht darin, die beiden gleichwertigen, aber unvollständigen Szenenfolgen, statt hintereinander, möglichst synchron auszulegen. Aber das kann nur gelingen, wenn die Glieder der einen und andern Kette versetzt werden, anders gesagt: verschachtelt, regelrecht ineinander verzopft. Eine Gleichzeitigkeit im absoluten Sinn müsste die geteilte Leinwand erfordern, jenen unglückseligen split screen, der erfahrungsgemäss mehr Verwirrung stiftet als Klarheit schafft. Es wird demnach nur simuliert, dass einzelne Auftritte, die unter zwei verschiedenen Blickwinkeln spielen, sich in ein und demselben Moment zutragen. Was synchron sein sollte, gerät wieder zum Nacheinander, anders kann es kaum sein.

Troubled water 01

Und in einem fort fragt sich, wie denn nun zum Teufel die Erzählung gerade wieder laufe, vorwärts oder rückwärts oder simultan nach beiden Richtungen. Und soll der Betrachter voraus oder hinterher eilen, oder ist es besser, in Reglosigkeit zu erstarren, um alles nur sich abspulen zu lassen? Wie immer er sich einstellt, in Atem wird er sicher gehalten. Die Zeit hält ihrerseits für Sekundenbruchteile den Schnauf an, um je nach Bedarf die Uhr vorwärts oder rückwärts zu stellen: sei’s um Minuten, sei’s um Jahre.

Die eine zentrale Szene, die den Kreuzungspunkt der Abläufe eins und zwei markiert, ist das Kabinettstück von Troubled Water. In einer Kirche ertönt rauschende, stürmisch sich steigernde Orgelmusik. Von der Empore, auf der er sitzt und in die Tasten und Register greift, schaut die Kamera dem Organisten über die Schulter und mit ihm hinunter auf die versammelte Gemeinde, doch ohne genauer zu beobachten. Nach etlichem Vor und Zurück quer durch verschiedene Schauplätze betritt vielleicht zwanzig Minuten Laufzeit später eine Besucherin das Schiff durch die Seitentür. Inzwischen bewegt sich die Kamera im Erdgeschoss. Das Auge richtet sich erst in die Horizontale und dann, mit dem der Frau, diagonal hochziehend nach oben gegen die Empore hinauf. Da spielt doch jemand ganz anders, als ich es jemals hier gehört habe: so viel besser.

Troubled water 11

Abermals schwillt die nunmehr zornig donnernde Musik auf. Die Zuschauer im Kino finden sich im exakt gleichen Moment wie vorhin wieder, doch nunmehr Seite an Seite mit einer andern Figur. Sie blenden zurück auf Gleichzeitigkeit und bekommen jetzt, als hätten sie einen split screen vor sich, eine gespaltene Leinwand, zwei Szenen in einer zu sehen. Oder ist es eine, aber zweigeteilt? Durch den Blick, der ihn von unten her einholt, sieht sich der Organist identifiziert, ja geradezu ertappt. Es braucht kein Wort zu fallen, das Spiel der Augen verrät wie mit einem Schlag alles, was vonstatten geht: die blitzartigen beiderseitigen Gedanken; den unausgesprochenen, sozusagen telepathischen Dialog; die ganze theatralische Zuspitzung eines Wiedersehens, das nie hätte zu Stande kommen dürfen.

Du bist das, was für eine Überraschung! Lange nicht gesehen. Damals warst du noch kein Virtuose. Klingt, als hättest du Talent. Aber du bist unvergessen, verlass’ dich drauf. Du weisst, was es heisst, passend zu diesen schicksalsbeschwörenden Akkordschüben, wenn ich dich wieder antreffe, hier und jetzt. Du bist das, Thomas, und das: ja, das bin ich.

Troubled water 06

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2010 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

Weitere Empfehlungen

Kino

25. Juli 2012

Le ministre – L'exercice de l'etat

Schoeller nimmt die Kontinuität des Politischen in den Blick und ist dabei überaus empfindsam für die Aura der Dekors, in denen sie sich zuträgt und die viele Generationen von Politikern haben kommen und gehen sehen. Seinen Darstellern hat er nie verraten, ob es sich um eine Links- oder eine Rechtsregierung handelt. Der Titel kündigt an, dass es gewissermassen universell um die Ausübung von Staatsmacht geht.

Kino

28. Juni 2020

Euthanizer

Ein Mann in Finnlands Weiten tötet Tiere für andere. Bald vergreift er sich aber auch an Menschen, obwohl er ein grosses Herz hat. Eine verwirrende Ausgangslange und einen Film, der diese Diskrepanzen gar nicht auflösen will.