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You will meet a tall dark stranger

«Jamais content»: Woody Allen macht uns mit einer Gruppe von gelangweilten Menschen bekannt, die sich alle nach Unbekanntem, nach einer Abwechslung sehnen. Vielleicht braucht es da einfach Vertrauen in den Zufall?

Text: Michael Ranze / 10. Nov. 2010

Die schlichte Genialität des Titels des neuen Films von Woody Allen legt nicht nur in wenigen Worten mehrere Sachverhalte dar, sondern umschreibt auch gleich die Essenz des Films. «Du wirst einen grossen dunklen Fremden kennenlernen»: Das ist zum einen die Meinung eines Aussenstehenden, vom Sprachduktus her wahrscheinlich einer Wahrsagerin. Darüber hinaus geben die wenigen Worte aber auch Aufschluss über die Probleme der Angesprochenen, über Unsicherheit und Unzufriedenheit, Hoffnungen und Träume, über Wünsche und Obsessionen, vielleicht auch über das Bedürfnis, einfach mal belogen zu werden, um sich über die schnöde Wirklichkeit hinwegzutrösten. Woody Allen macht uns mit mehreren Menschen bekannt, die – ganz banal – auf der Suche nach Glück sind. Das verwundert zunächst, weil sie es mit schicker Wohnung, attraktiven Berufen, ausgeprägten kulturellen Interessen und schützendem sozialem Umfeld geschafft zu haben scheinen. Aber:
«jamais content» lautet ein geflügeltes französisches Wort. Niemals zufrieden zu sein, das scheint zur Natur des Menschen zu gehören. Woody Allen, der in schöner Regelmässigkeit jedes Jahr einen Film dreht, wird im Dezember fünfundsiebzig Jahre alt. Man darf ihm darum ein ordentliches Mass an Altersweisheit unterstellen, die nun unaufdringlich in seinen Film einfliesst.

Handlungsort ist, nach Matchpoint, Scoop und Cassandra’s Dream, erneut London. Die Angesprochene des Filmtitels ist eine ältere Dame namens Helena, die nach vierzig Jahren Ehe von ihrem Mann Alfie verlassen wird und nun – nach einem missglückten Selbstmordversuch und einer Therapie – Trost bei einer Wahrsagerin sucht. Alfie hingegen ist eines nachts erschreckt aufgewacht, voll Bedauern über verpasste Lebenschancen und verlorene Jugend. Nun versucht er verzweifelt, Versäumtes nachzuholen. Er kauft sich einen flotten Sportwagen, wird Mitglied in einem Fitnessstudio und zieht in eine teure Junggesellenwohnung. Mehr oder weniger zufällig lernt er Charmaine kennen, ein blondes Dummchen, halb so alt wie er und verdammt anspruchsvoll. Ein Jungbrunnen, der Alfie schon bald überfordert, ob beim Sex oder beim Geldbeutel. Anthony Hopkins, der so abgrundtief böse war in Silence of The Lambs, so gefühlskalt in Remains of The Day und so verklemmt in Shadowlands, macht sich hier in Abkehrung seines Images für diese Frau vollends zum Deppen. Das ungläubige Staunen auf seinem Gesicht wird dabei zur Metapher für die Unfähigkeit eines Mannes, sein Alter zu akzeptieren.

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Helena und Alfie haben eine Tochter, Sally, eine Galeristin, die mit Roy verheiratet ist, einem amerikanischen Schriftsteller, der dem Erfolg seines ersten Buches hinterherläuft. Seit sieben Jahren werkelt er an einem neuen Roman und lebt auf Kosten seiner Frau. Das nagt natürlich an seinem Selbstbewusstsein und seinem Nervenkostüm. Ein bisschen erinnert er an den Misanthropen Boris Yellnikoff aus Allens vorangegangenem Film Whatever Works. Im Streit um Geld, Arbeit und möglichen Nachwuchs haben sich Sally und Roy immer weiter von einander entfernt und orientieren sich anderweitig. In einer der schönsten Szenen des Films schaut Roy aus dem Fenster, weil die Melodie eines Cellos seine Aufmerksamkeit erregt. Noch ist die Musikerin im Appartement auf der gegenüberliegenden Seite des Hofes nicht zu erkennen. Doch plötzlich erfasst eine Nahaufnahme die wunderschöne, bezaubernde Dia, dargestellt von Freida Pinto aus Slumdog Millionaire, und man muss unwillkürlich lachen, weil man Roys aufkeimendes Interesse so gut verstehen kann. Ein wahrgewordenes Wunschbild verführerischer Weiblichkeit, das dennoch unerreichbar zu sein scheint. Sally hingegen fühlt sich zu ihrem Chef Greg hingezogen. Doch sie versteht seine Aufmerksamkeiten und Signale falsch. In einer der beklemmendsten Szenen des Films sitzen sie nach dem Opernbesuch noch im Auto und verabschieden sich. Eigentlich könnten sie sich jetzt küssen, doch der Kuss bleibt aus. Wieder eine Lebenschance, die ungenutzt vorüberzieht.

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Am Schluss werden sich die Paare neu formieren oder neue Lebensentwürfe wagen, Roy, laut Woody Allen «die finsterste und komplizierteste Figur des Films», versucht sich mit einer fatalen, moralisch verwerflichen Entscheidung von seinen Problemen zu befreien. Dabei geschieht nichts so, wie es der Zuschauer erwartet. Allen findet immer noch einen Dreh, noch eine Überraschung. Und: Er kehrt zu seinen Anfängen als Standup-Comedian zurück und unterhält den Zuschauer mit witzigen, überaus schlagfertigen one-linern, mit denen er zuletzt so gegeizt hatte. So sorgt Helenas naives Vertrauen in die Handlungsanweisungen der Wahrsagerin für unterhaltsame, konzis geschriebene Wortgefechte mit ihrem sauertöpfischen, skeptischen Schwiegersohn, einmal wird Roy von seiner Clique wegen mangelnder Freundschaftspflege gefragt, ob er «an einem Zeugenschutzprogramm» teilnehme. Anthony Hopkins fängt die gelegentliche Überdrehtheit seiner Figur durch perfekte Körperbeherrschung auf. Köstlich, wie er in irgendwelchen Fitness-Geräten mit der Tücke des Objekts kämpft und gelegentlich die Grenze zum Slapstick streift.

Das Streben nach Glück: Allens Film plädiert dafür, sich ein wenig mehr Zufriedenheit zu gönnen, nach seinen Möglichkeiten zu leben, vielleicht auch mal dem Zufall zu vertrauen. Helena zum Beispiel lernt keinen grossen dunklen Fremden kennen, sondern einen kleinen, gedrungenen, mit Brille und restblondem Haupthaar. Trotzdem passen sie vortrefflich zueinander. Wie das Leben so spielt – Whatever works.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 7/2010 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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