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Anotheryear 06

Another Year

Einerseits gibt es das ältere Paar, das Geborgenheit ausstrahlt und die jungen Leute in ihrem neuen Glück andererseits die depressive Mary oder der hoffnungslose Bekannte Ken mit seinem T‑shirt-Aufdruck Less thinking more drinking”. Mike Leigh zeigt den Alltag einer zusammengewürfelten Gruppe – ohne Sentimentalität und Unwahrheit.

Text: Erwin Schaar / 08. Dez. 2010

«Ich treffe in meinen Filmen keine moralischen Urteile, ich ziehe keine Schlüsse. Ich stelle Fragen, ich beunruhige den Zuschauer, ich mache ihm ein schlechtes Gewissen, aber ich liefere keine Antworten. Ich weigere mich, Antworten zu geben, denn ich kenne die Antworten nicht», hat Mike Leigh einmal geäussert. Nun, ganz so herausfordernd scheint der 1943 geborene britische Theater- und Filmregisseur heute nicht mehr zu denken und zu agieren. Zumindest die Beunruhigung der Zuseher hält sich in seinem neuen Film in Grenzen, nachdem er ja schon in seinem letzten Film Happy-Go-Lucky (2008) seine Lust an Heiterem gezeigt hatte. Leigh scheint altersmilde geworden zu sein, aber gegen moralische Urteile immer noch seine Vorbehalte zu haben.

Mit seinen vier Teilen «Frühling», «Sommer», «Herbst» und «Winter» assoziiert §Another year – so ganz nebenbei – ein die Vergänglichkeit anzeigendes «Oh, dies ist ein glücklicher Tag, dies wird wieder ein glücklicher Tag gewesen sein» aus Becketts «Glückliche Tage», auch wenn die-se abstrakte Absurdität nicht unbedingt Leighs realistischem Zugriff auf Abläufe des menschlichen Lebens entspricht. Leigh bleibt gleichsam am Boden des Geschehens, wie ein Beobachter, den alle menschlichen Verhaltensweisen interessieren: «Ich arbeite sehr eng mit jedem einzelnen Schauspieler zusammen, um eine Figur zu erschaffen. Stück für Stück entwickeln wir die ganze Geschichte dieser Figur, ihre ganze Welt mit all den Beziehungen. Auch die Zeit ist sehr wichtig, die chronologische Zeit des Lebens einer Figur. Dabei geht es nicht nur um Improvisation, sondern auch um Recherche. Aber das Wichtigste ist dabei nicht, was der Schauspieler individuell macht, sondern was die Darsteller zusammen in den Beziehungen machen.»

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Wenn wir ein künstlerisches Produkt vor uns haben, sind wir gerne bereit, es in einem Ordnungsrahmen erkennen zu wollen. Dem gestalteten und komprimierten Ausschnitt des Lebens wollen wir zum Beispiel eine zeitliche Gerichtetheit unterstellen. Da mag auch die von Leigh vorgegebene Reihung der Jahreszeiten dem Geschehen einen zielbestimmten Rahmen geben. Aber es ist nur eine scheinbare geordnete Fixiertheit auf die Abfolge von Vergänglichkeit. Wir leben eben in solchen zeitlichen Koordinaten.

Der Filmhistoriker Ulrich Gregor stellte in seiner Tour d’Horizon «Geschichte des Films ab 1960» (1978) zu Leighs Bleak Moments (1971) noch fest: «Die Personen des Films sind nicht nur unfähig zur Kommunikation, sie vermögen sich nicht einmal sprachlich zu artikulieren. Leigh konstatiert bei seinen Protagonisten eine seelische Verkümmerung, einen Einschrumpfungs- und Abkapselungsprozess, der von den Symptomen geistiger Anomalie nicht weit entfernt ist.» Aber der Zuseher von Another Year wird mit einem veränderten Menschenbild konfrontiert. Die Distanziertheit hat sich zur Empathie gewandelt. Das ältere Paar im Mittelpunkt der Handlung, die psychologische Beraterin Gerri und ihr Mann Tom, ein Geologe, üben ihren Beruf mit einem solchen Selbstverständnis aus wie auch ihre Beziehung von einer Zuneigung geprägt ist, deren Absolutheit aus ihrem alltäglichen Verhalten zueinander sichtbar wird. Ihr dreissigjähriger Sohn Joe ist noch ohne Bindung und wohnt bei den Eltern. Er wird im weiteren Verlauf die Ergotherapeutin Katie, eine liebenswerte Person, mit nach Hause bringen und die Familie wird uns ohne Hintergedanken eine wärmende Vertrautheit vermitteln. Wie es eine Geschichte erfordert, die die Spannung halten soll, werden irritierende Momente aus dem Umfeld der Bekannten und Verwandten kommen. Da ist die Arbeitskollegin von Gerri, die Sekretärin Mary, die sich der Familie sehr verbunden fühlt und die die neue Beziehung Joes gar nicht goutieren mag, weil sie in dem viel Jüngeren doch noch einen erotischen Partner zu erkennen glaubt. Mary ist ein gebrochener Mensch mit Scheidung, Alkoholabhängigkeit und immer wieder eingeschränktem Lebensmut, was zugleich ihre Partnersuche behindert. Und da gibt es Ronnie, den Bruder von Tom, den der Tod seiner Frau gezeichnet hat und dessen Sohn Carl mit seinem abstossenden Verhalten auf ein kaum glücklich abgelaufenes Familienleben schliessen lässt.

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Einerseits gibt es das ältere Paar, das uns Geborgenheit in der Welt vermittelt, und die jungen Leute in ihrem neuen Glück, andererseits die depressive Mary oder Toms Bekannten Ken mit seinem T-Shirt-Aufdruck «Less thinking, more drinking», die keine Hoffnung ausstrahlen, dass sie das Glück am Rande zu fassen bekommen werden. -Eine Gemeinschaft von Menschen wird uns von Leigh in einer Folge von Geschehnissen vorgestellt, die uns mit allen positiven und negativen Äusserungen umfängt.

Die gar nicht Schönheitsidealen entsprechenden Schauspieler spielen mit einer Ausdruckskraft, dass wir uns kaum von den gezeigten Charakteren lösen möchten. Und die einfache Erzählung über menschliches Verhalten spielt in einer Umgebung, die frei ist von modisch gestyltem Design. Selbst das abgenützte und sichtbar schon lange das Leben begleitende Mobiliar möchte uns mit menschlicher Vertrautheit umfangen.

Mike Leigh, der Exponent des New British Cinema, hat seine von ihm als Bühnenregisseur erfundenen Charaktere in ein filmisches Handlungsschema eingefügt, das uns zum ästhetischen Glücklichsein zwingt, obwohl wir doch nur der Alltäglichkeit beliebiger menschlicher Charaktere beiwohnen. Es ist die hohe Inszenierungskunst, die Leigh davor bewahrt, in Sentimentalität und Unwahrheit abzudriften.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 8/2010 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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