Air Doll

Hirokazu Kore-eda
Gibt man beim Online-Lexikon «Wikipedia» den Begriff «Gummipuppe» ein, wird man direkt zu einem Eintrag mit der unzimperlichen Überschrift «Sexpuppe» weitergeleitet. Womit gleich schon einmal geklärt wäre, wofür solche Puppen gemeinhin Verwendung finden. Romantische Absichten verbinden mit der aufblasbaren «Saucy Sondrine Doll», die für circa 40 Franken auch bereitwillig im Dunkeln leuchtet, oder dem ungleich ausgefeilteren Silikonmodell «Leeloo», das in den Ausführungen «blond», «blond gesträhnt» oder «schwarz» erhältlich ist und für das man gut und gern über 10 000 Franken hinblättern muss, wohl die wenigsten. In Craig Gillespies Lars and The Real Girl (2007) brachte es ein eher bedauernswerter Puppenliebhaber, der seine real doll nicht nur wie eine echte Frau behandelt, sondern auch für eine hält, immerhin bis zum Helden einer romantischen Komödie. Für Lars beginnt dabei das wahre Leben erst, nachdem er die künstliche Bianca unter Tränen zu Grabe getragen hat.

Hirokazu Kore-eda beschreibt in Air Doll, seinem jüngsten Spielfilm, nun genau den entgegengesetzten Prozess: Eine aufblasbare Gummipuppe erwacht zum Leben und sehnt sich nach Liebe. Was sich auf den ersten Blick wie eine Steilvorlage für eine grelle Schenkelklopfkomödie lesen mag und auf einem zwanzigseitigen Manga basiert, entpuppt sich in der feinfühligen Inszenierung Kore-edas als ein zärtliches, humorvolles, aber ebenso wehmütiges und zutiefst poetisches Drama über einsame, in der Anonymität der gegenwärtigen japanischen Gesellschaft verlorene Menschen. Dass Kore-eda, ein Meister des zweiten und dritten Blickes, auf die Metapher der Gummipuppe verfällt, ist kein Zufall. Sex mit “lebensechten”, also leblosen Puppen hat sich in Japan zu einem Trend entwickelt. Besonders kostspielige Modelle stehen in eigens eingerichteten Bordellen der zahlenden Kundschaft zur Verfügung. Auf Wunsch auch ohne Kondom, da dieses im Grunde ja bereits in die Puppe integriert ist. Auch die Gummipuppe in Air Doll verfügt über solch eine herausnehmbare Vagina, die ihr Besitzer Hideo, ein schweigsamer, meist traurig dreinblickender Mann mittleren Alters, nach Gebrauch jeweils gründlich reinigt. Diese praktische Vorrichtung schätzt er an seiner Puppe ebenso wie ihre ständige Verfügbarkeit. Sie trägt immer und zu allem ein Lächeln auf dem Plastikgesicht. Hat keine Ansprüche, keine eigenen Wünsche. Deshalb ist Hideo auch alles andere als erfreut, als seine Puppe plötzlich lebendig wird. Sie fühlt sich jetzt zwar weich und menschlich an, kann richtig lächeln und sprechen, aber eben auch widersprechen. Als Hideo eine zweite Puppe mit nach Hause bringt, reagiert sie empört und eifersüchtig. Am liebsten, gesteht er ihr daraufhin, hätte er sie so, wie sie früher war: tot und willenlos also. Eine gemeinsame Zukunft kann es für die beiden deshalb nicht geben.

Das erwachende Selbstbewusstsein der air doll darf man durchaus allegorisch verstehen. Doch im Blickpunkt des Films steht weniger dieser indirekte, feministisch-emanzipatorische Kommentar zur Gesellschaft als vielmehr das Gefühl der Entfremdung, das zwischen den Menschen herrscht. Die jetzt lebendige Puppe sehnt sich nach Nähe, nach Gefühlen, nach Liebe. In den langen Stunden, in denen ihr Besitzer bei der Arbeit ist und sie bislang einfach nur auf dem Bett lag, macht sie sich nun auf den Weg nach draussen. In einer Tokioter Videothek findet sie einen Job und verliebt sich in ihren jungen, schüchternen Kollegen Junichi. Nach einer zaghaften Annäherung macht ein Unglück aus den beiden ein Paar. Als sie sich versehentlich schneidet und fast alle Luft verliert, klebt er rasch ihre “Wunde” zu und bläst sie wieder auf. Den Wechsel von der lebendigen jungen Frau zur luftleeren Puppe und zurück meistert Kore-eda in dieser Szene ohne grossen Computerzauber; mit wenigen, raffinierten Schnitten. Die wunderbar sanfte Darstellung der Koreanerin Doona Bae glättet die Übergänge. Kore-eda inszeniert dieses Hineinpusten von Leben als einen ausgesprochen sinnlichen Akt. Später zelebrieren Junichi und die zur Frau gewordene Puppe im rhythmischen Luftablassen und Wiederaufblasen ein Liebespiel im Spannungsfeld von Sterben und Wiedergeburt.
Solche erotisch aufgeladenen Szenen sind – ähnlich wie der emotionale Score des Films – ungewohnt für Kore-eda. Typisch hingegen ist die Überwindung des Gegensatzes von Tod und Leben, aus der sich hier die Erotik speist. Der Wunsch, das Leben mit dem Tod zu versöhnen und aus der Perspektive des Todes dem Geheimnis des Lebens auf die Spur zu kommen, zieht sich wie ein roter Faden durch sein Œuvre: vom Spielfilmdebüt Maboroshi no hikari (1995), in dem eine junge Witwe mühsam ins Leben und zur Liebe zurückfindet, über After Life (1998), in dem die frisch Verstorbenen nur eine einzige Erinnerung mit in die Ewigkeit nehmen dürfen, bis hin zu Still Walking (2008), in dem sich eine ganze Familie um die Erinnerung an einen Toten organisiert.
Wie nur wenigen gelingt es Kore-eda, widersprüchliche Empfindungen zu einer vielschichtigen harmonischen Einheit zu verschmelzen. Kaum ein anderer hätte wohl so schön, so würdig und liebevoll vom Schicksal kleiner Kinder, die von ihrer Mutter alleine in einem Tokioter Appartement zurückgelassen werden, erzählen können, wie es Kore-eda in Nobody Knows (2004) tat. Und wohl kaum einer kann anhand der bizarren Geschichte um eine zum Leben erwachten Liebespuppe soviel über soziale Kälte und menschliche Wärme zugleich mitteilen, wie er es nun in Air Doll tut.

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