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J'ai tué ma mère

Text: Pierre Lachat / 03. Mär. 2010

Les quatre cents coups hat seine Premiere im Mai 1959 am Festival von Cannes und erweist sich, etwas mehr als fünfzig Jahre danach, wieder einmal als einer der lange nachwirkenden Filme mindestens der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Von jenem Klassiker ist nun J’ai tué ma mère weder ein Remake noch eine Imitation. Sondern es handelt sich um einen thematischen Rückgriff auf jenes bahnbrechende Exempel, der aktuell beleuchtet, wie die Verhältnisse sich inzwischen geändert haben.

Geboren 1932, erzählte François Truf-faut von leichtfertigen Eltern, die gleichermassen unwillens wie ausserstande waren, ihre Verantwortung für den halbwüchsigen Antoine Doinel auch nur zu begreifen. Der Kanadier Xavier Dolan nun, Jahrgang 1989, geht das gleiche Motiv überwiegend von der weiblichen Seite her an. Er tut es aus der Sicht jener alleinerziehenden Mütter, heisst das, von denen es inzwischen viele gibt, deutlich mehr als Männer in ähnlicher Lebenslage.

In der modernen Version der alten Geschichte überlässt der Erzeuger die ganze Last der Erziehung, Finanzen ausgenommen, seiner geschiedenen Gattin. Ohne ihren Sohn im strikten Sinn zu vernachlässigen, bringt Chantale kaum mehr zuwege, als den elementaren materiellen Erfordernissen recht und schlecht zu genügen. Der wildmähnige Hubert wird in der Tat behaust, gekleidet, verpflegt, ausgebildet und vor dem Anblick etwaiger Stiefväter bewahrt. Die Notwendigkeit einer regelrechten Zuwendung aber, zumal von der zärtlichen Art, ohne die kein Nachwuchs gedeiht, bleibt bestenfalls verbal bekräftigt und wird mit einem hingehauchten «Je t’aime» abgehakt.

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Minel / Doinel

Zwei drei Dinge will Chantale feige übersehen haben: etwa dass Hubert, der Held, auf Teufel komm raus pubertierend, das heisst in vielen Dingen unreif schwankend, das Lager bald tröstend mit einer einsamen Lehrerin teilt. Bald tut er’s nichtsahnend mit einem seiner Freunde, der seinerseits zu den allein Erzogenen zählt, und zwar mit dem kompletten Drum und Dran. Denn bei jenem andern winkt, vor dem Frühstück, auch noch der eine oder andere Gelegenheits-Beischläfer einer Mutter, die sich lebenslang sechzehnjährig gehabt.

Sehr schnell stimmt die Heldin Chantale zu, da ihr Ehemaliger, als hätte er auf die Chance gewartet, die Abschiebung des zunehmend rebellisch gewordenen jungen Mannes in ein Internat betreibt. Und es ist bloss folgerichtig, dass er, der Zögling, immer häufiger von einem überraschenden Ableben seiner Gebärerin phantasiert, auch wenn er davon absieht, es dann eigenhändig herbeizuführen. Anders als der Film-titel gruselig nahelegt, begnügt sich Hubert damit, die Liquidierung seiner Mutter nur in Gedanken und Worten vollzogen zu haben.

So verhält sich Minel, wie er mit Nachnamen heisst, auffallend jenem Doinel ähnlich, der sich in einer denkwürdigen Szene mit der Behauptung aus der Klemme wand: «elle est morte!» – meine Mutter ist tot! Die Ausrede brachte ihm zunächst das schonende Mitgefühl des Klassenlehrers ein, der dann freilich hinterher, nach Auffliegen des Schwindels, in umso helleren Zorn ausbrach. Pubertät kennt viele Symptome. Es genau zu nehmen mit der Unwahrheit ist eines davon. Auch Hubert lässt sich der Unterschied nur schwer beibringen zwischen einer flüchtigen Flunkerei und der rabenschwarz auf den Lügner zurückfallenden Lüge.

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Ausbüchser

Wo es Les quatre cents coups mehr um das Ungesagte und Verheimlichte zu tun war, da verfährt J’ai tué ma mère absichtlich umgekehrt und tut es gleich radikal. Mutter und Sohn nerven einander ohne Ende und geben ihr gegenseitiges Missfallen in wüsten Invektiven, in einem förmlichen Schwall von verletzenden Tiraden kund, wohl vierhundert Mal und mehr. Handgreiflichkeiten halten sich eher am Rande.

Die Kämpfe entspringen sichtlich der Ahnung, dass die beiden mehr als unzertrennlich, nämlich einander ausgeliefert und ineinander verkeilt sind, mit einer bescheidenen Aussicht, vom jeweils andern jemals zu lassen, und sei es gewaltlos. Da liesse sich geradezu werweissen: wären sie eher imstande, jeder seiner Wege zu gehen, sollten sich ihre Liebesbezeugungen doch als ungespielt erweisen; oder ist es, nach der Gegenrichtung gefragt, nichts als eingespielte, resignierte Lieblosigkeit, die das Paar bindet? In der Endabwägung hütet sich der Autor wohlweislich, über die Zwei zu urteilen.

Wie sehr die Wechselfälle des Gefühls zwischen Mutter und Sohn auf der gemeinsamen Hilflosigkeit beruhen, bestätigt die bestgelungene einzelne Szene, die auf ihre dreist überrumpelnde Weise für den ganzen Film steht. Der Leiter des Internats ruft Chantale an ihrem Arbeitsplatz mit der Nachricht an, ihr Sprössling sei ausgebüchst: ein erstmaliger Vorfall in meinem Heim, beeilt sich der Fremde beizufügen, um vorsorglich den Schwarzen Peter weiterzuschieben. Vielleicht mangle es bei der Alleinerziehenden zuhause an männlicher Präsenz.

Statt darauf einzugehen büchst die Mutter ihrerseits aus. Ob denn der allwissende Monsieur Pädagoge im Mindesten eine Vorstellung davon habe, was es bedeute, ein Scheidungskind wie Hubert ohne jede fremde Hilfe grosszuziehen und auf den Weg zu bringen; was es an Mühe, Ausdauer und Verdruss koste; nie ein Wort der Anerkennung,von allen Seiten nur Kritik, und jetzt auch die Ihre, mein Herr. Sie kommen mir gerade recht, endlich; einer von dieser Sorte hat mir nur noch gefehlt!

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Ganz die Megäre

Chantale argumentiert in lauter Klischees von der bestens bekannten Sorte, doch tut sie es eruptiv, mit einer hinreissenden Heftigkeit, die jedem einzelnen Satz eine schon fast biblische Wucht und Wahrhaftigkeit einjagt. Ganz gleich, wie banal es klingt, alles trifft zu. So muss es sein. Den ganzen Wust, den ganzen Frust, den ganzen platten Schmarren hat sie ihrem Sohn schon immer an den Kopf schmeissen wollen: in nasalem Québécois, ganz die Megäre, alles an einem Stück, ohne einmal Luft zu holen. Auch ihrem Ex hätte sie’s um die Ohren geknallt, wäre denn nur einer von den beiden jemals hinzuhören befähigt gewesen.

Wie so oft: das Telefon macht’s möglich. Es schützt vor Gegenangriffen.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2010 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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