Filmbulletin Print Logo
Lourdes 02

Lourdes

Text: Karlheinz Oplustil / 03. Mär. 2010

Viele werden schon abwinken, wenn sie bloss den Namen Lourdes hören. Das ist doch katholische Wundergläubigkeit der naivsten Art, verbunden mit einer Art religiösem Rummelplatz, und auch gläubige Katholiken runzeln dabei skeptisch die Stirn. Der Besuch einer Pilgergruppe im französischen Wallfahrtsort Lourdes klingt wirklich nicht nach einem spannenden Filmstoff. Aber der österreichischen Regisseurin Jessica Hausner gelingt es mit ihrem dritten Spielfilm Lourdes, den Zuschauer in den Bann ihrer minimalistischen und doch vielschichtigen Erzählung zu ziehen.

Am Anfang steht ein Blick von oben auf den noch leeren Speisesaal des Hotels, in dem die Pilgergruppe untergebracht ist. Alsbald füllt er sich mit den Reiseteilnehmern und ihren Betreuern, ein Behinderter saust mit seinem motorisierten Rollstuhl keck durch die Reihen. Viele der Pilger sind krank und behindert, die Helferinnen und Helfer sitzen bei den Hilfebedürftigen am Tisch. Es herrscht spürbare Befangenheit. Schliesslich ergreift die etwas exzentrische Oberschwester Cécile das Wort und informiert die Reisegruppe über den Ablauf des nächsten Tages. Wie ein Dokumentarfilm wirkt dieser Anfang. Der Film wird seinen dokumentarischen Duktus auch behalten, wenn man später die Pilger in der berühmten Grotte, bei den ersehnten Waschungen, bei Gebeten und Prozessionen sieht. Aber ganz beiläufig haben sich erzählerische Momente in die Beobachtungen gemischt, und ebenso beiläufig hat sich die an den Rollstuhl gefesselte Christine als Hauptperson herausgestellt. Sie leidet an schwerer Multipler Sklerose und zeichnet sich nicht gerade durch grosse Glaubensstärke aus, hat auch gar nicht die Hoffnung, dass sie in Lourdes geheilt werden könnte, aber die Reise ist eine Abwechslung in ihrem eingeschränkten Leben.

Lourdes 01

Zwischen den dokumentarischen Anteilen entwickelt sich weniger eine Handlung als eine Reihe von kühl beobachteten Mini-Dramen. Sie sind mit solcher Genauigkeit gezeigt, dass man immer aufmerksam zusieht, obwohl es um ganz einfache Dinge geht: Wie sich die einzelnen Reiseteilnehmer auf die Situation und den sehr speziellen Ort einstellen. Wie mühsam es ist, die gelähmte Christine zu Bett zu bringen, und wie sie die Fürsorge annimmt. Welche Aufmerksamkeiten sich die einsame Frau Hartl einfallen lässt, um Christine gefällig zu sein. Ob die jungen Freiwilligen des Malteserordens eine Chance bei der hübschen Helferin Maria haben.

Sensibel registriert Jessica Hausners kalkulierte Inszenierung eine untergründige Spannung zwischen der Individualität der einzelnen Personen und ihren in den ritualisierten Abläufen eingenommenen Rollen, wobei die Uniformen der Helfer sie schon äusserlich ihrer Rolle zuweisen. Bezeichnend ist eine Szene, wenn sich die Gruppe für ein Foto aufstellt. Es herrscht eine exakte Anordnung, links stehen die Helferinnen, rechts die Männer vom Malteserorden, dazwischen die von ihnen betreuten Pilger mit den vorne aufgereihten Rollstuhlfahrern. Als das Foto gemacht ist, löst sich diese Ordnung schnell wieder auf. Auch ein Spiel mit den Farben Weiss, Rot und Blau durchzieht den Film. Christines roter Hut und ihre blaue Strickjacke treffen auf das Weiss und Rot der Schwesterntracht. Ist es Zufall, dass dies die französischen Nationalfarben sind?

Lourdes 03

Überraschend ist Christine in der Nacht nach dem Besuch der Grotte wieder in der Lage, sich zu bewegen, zu stehen und zu gehen. Ein Wunder? Der Film lässt das bewusst offen, wie er offen lässt, ob die Heilung dauerhaft sein wird. Man erfährt allerdings nebenbei, dass auch in Lourdes nicht so schnell an ein Wunder geglaubt wird und dass eine spezielle Kommission der Frage ganz bürokratisch nachgeht, tatsächlich hat die Kirche bisher 67 Fälle von etwa 7000 Meldungen als Wunder anerkannt. Jessica Hausner zeigt das Wunder, wenn es eines sein sollte, denkbar nüchtern in einer Art magischem Realismus, der viel der beeindruckenden Kameraarbeit von Martin Gschlacht zu verdanken hat. Als Inspiration hat sie sich auf Carl Theodor Dreyers Ordet (1955) bezogen, nicht erstaunlich, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass Dreyer nach eigenem Bekunden seinen Film vor allem gemacht hat, um sich selbst zu beweisen, dass er ein Wunder inszenieren könne, an das die Leute auch glauben könnten. Das Element der Ungerechtigkeit bei einer solchen glücklichen Fügung, wie umgekehrt bei grossem Unglück, ist offensichtlich. Der Film lässt es in der Schwebe, ob es launische Zufälligkeit oder unergründlicher Wille Gottes ist, wenn gerade die nicht sehr gläubige Christine gesund wird und nicht andere, die frommer sind und deren Leid noch grösser ist.

Es stellt sich durchaus als Vorzug des Films heraus, dass Jessica Hausner das Phänomen Lourdes nicht vordergründig kritisch angeht. Sie konnte die Genehmigung erhalten, am Originalschauplatz zu drehen, und zeigt die absurden Züge der organisierten Frömmigkeit, die ein Besucherstrom von rund fünf Millionen im Jahr hervorbringt, mit eher leiser Ironie und mit deutlicher Verbeugung vor Jacques Tati. Das kommt dem Film weit mehr zugute als es eine billige Polemik getan hätte.

Der Film ist in allen Nebenrollen – wie dem hilflosen Pfarrer und zwei als Chor fungierenden Damen – mit österreichischen Schauspielern hervorragend besetzt, und das zurückgenommene Spiel von Sylvie Testud ist absolut bewundernswert. Die Schlussszene mit dem fröhlichen Schlager «Felicità» ist ein veritables Meisterstück für eine offene Erzählweise.

Lourdes 05

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2010 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

Weitere Empfehlungen

Kino

12. Aug. 2021

Nuevo orden (New Order)

Actionfilm oder Gesellschaftskritik, valide Aufarbeitung oder dramatisiertes Geballer? Michel Franco überzeugt wohl mit fulminanter Inszenierung, lässt aber auch einiges an Potential unausgeschöpft.

Kino

01. Juni 1994

Mouvements du désir

Zweifeln wir an der Glaubwürdigkeit von Léa Pools Darstellung weiblicher Sexualität, so liegt der Verdacht nahe, dass sie uns in Mouvements du désir lediglich abgestandene Männermythen auftischt.