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Les herbes folles

Text: Martin Girod / 14. Apr. 2010

Wenn wir aus dem Kino kommen, so wird in Les herbes folles einmal gesagt, überrasche uns nichts. Da kann alles passieren, und es kommt uns ganz natürlich vor. Mag sein, das trifft nicht auf jeden Film zu, aber sicher auf jene von Alain Resnais. Vorausgesetzt, man ist mit der Haltung ins Kino gegangen, dass da alles passieren kann; doch kennt man den französischen Altmeister ja mittlerweile als kühnen Zauberer. Resnais schickt uns auf Zeitreisen (Je t’aime, je t’aime), lässt uns in einem Spielfilm plötzlich das menschliche Verhalten durch einen Professor anhand von Mäusen erklären (Mon oncle d’amérique) oder lässt seine Filmfiguren plötzlich singen, auch wenn nicht eigentlich ein Musical angesagt war (On connaît la chanson).

Auch (oder gerade) mit siebenundachtzig Jahren ist Alain Resnais noch keineswegs auf brav-konventionelle Erzählungen eingeschwenkt. Zwar adaptiert er in Les herbes folles einen Roman und dies, man glaubt es kaum, zum ersten Mal, obwohl er für seine Drehbücher mit Vorliebe mit Schriftstellern zusammengearbeitet hat. Ein Off-Kommentar erzählt uns den handlungsauslösenden «Zwischenfall» («L’Incident» heisst der dem Film zugrunde liegende Roman von Christian Gailly), den Entreissdiebstahl, bei dem die Handtasche von Marguerite Muir entschwebt, und das Auffinden in einer Tiefgarage von Marguerites um alles Bare erleichterter Brieftasche durch Georges Palet.

Ein alltäglicher, banaler Vorfall, wie uns sogleich bestätigt wird. Die Stimme, die wir auf Anhieb für jene eines allwissenden Kommentators halten könnten, wird sogleich um ihre Autorität gebracht, wenn dem – unsichtbar bleibenden – Erzähler etwas nicht mehr einfällt, er sich korrigiert, nach treffenden Formulierungen ringt und uns somit an seiner Unfehlbarkeit zweifeln lässt. Ähnlich geht es weiter im Bild: Was uns die Figuren in inneren Monologen berichten und wir im Bild sehen, erweist sich als planende imaginäre Vorwegnahme, die umgehend wieder verworfen und durch eine andere Variante ersetzt wird.

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Diese gebrochene, das Publikum verunsichernde Erzählweise ist, wenigstens das wird uns nach und nach klar, keineswegs der Ausdruck eines gesuchten Originalitätsstrebens, sondern entspricht aufs Genaueste den Figuren, mit denen uns Resnais bekannt macht, und ihren inneren Zuständen. Auf den ersten Blick erscheinen sie als gesetzte, respektable, gesellschaftlich etablierte Personen. Dass sich nun der gut sechzigjährige, grauhaarige ehrliche Finder der Brieftasche aufgrund eines Ausweisfotos in die ihm unbekannte, einige Jahre jüngere Beraubte verliebt, durch diesen unerwarteten Gefühlsschub völlig aus der Bahn geworfen wird und schliesslich alle Beteiligten in diesen Taumel mitreisst, diese Verunsicherung ist das Thema von Resnais’ ungewöhnlichem Film.

Ältere Menschen, so sie im Kino Aufmerksamkeit beanspruchen dürfen, sind zumeist würdevolle, in sich ruhende Persönlichkeiten oder dann allenfalls schrullige Alte oder bemitleidenswerte Demente. Wenn sich Alte im Film ausnahmsweise einmal verlieben, so hat das primär etwas Rührendes. Dass sich trotz ihrer ganzen Lebenserfahrung hinter ihrem routiniert-souveränen Auftreten eine tiefgehende Verunsicherung verbergen kann, das durfte dem staunenden – und soweit es jung, vielleicht auch befremdeten – Publikum wohl nur ein selbst siebenundachtzigjähriger Regisseur verraten.

Ein Altersthema also, wenn auch über jenen Rest jugendlicher Freiheitssehnsüchte, die sich nicht in allen Herzen so leicht begraben lassen. Auch die Form, die Resnais dafür gefunden hat, ist – je nach Betrachtungsweise – erstaunlich jung oder auf unbelehrbare Weise alt. Gibt es, so fragte schon vor bald vierzig Jahren eine Veranstaltung der Freunde der Deutschen Kinemathek, einen «Altersstil»? Welche Antwort soll man darauf heute geben, da Siebenundachtzigjährige wie Resnais oder gut Hundertjährige wie Manoel de Oliveira mit verblüffendem Einfallsreichtum das Kino beleben, während so manche Junge vorzeitig regelkonform und brav geworden sind? Man ist versucht, sie zu verneinen: Spätwerke haben wenig Gemeinsamkeiten, denn mit fortgeschrittenem Alter erweist sich die je unterschiedliche Künstlerpersönlichkeit ihrer Autoren immer deutlicher. Und doch ist gerade ihre mit entspannter Selbstverständlichkeit gepflegte Radikalität eine Eigenschaft, die sich wohl nur im Laufe vieler Jahre und Werke entwickeln lässt.

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Die wilden Gräser, die dem Film den Titel geben, sie brechen schon im Vorspann von Les herbes folles durch den Asphalt. Sichtbar und nachvollziehbar zu machen, was normalerweise unter den im Laufe der Lebensjahre verkrusteten Oberflächen sich an Leben, Sehnsüchten und Lüsten regen mag, daran hat sich Resnais hier gewagt. Und es brauchte für das heikle Thema wohl die Souveränität eines grossen alten Mannes. Oder einer grossen alten Frau – aber Resnais ist nun mal ein Mann, und das prägt seinen Film, der in die männliche Hauptfigur letztlich stärker hineinblickt als in die sie umgebenden Frauen, so einfühlsam liebevoll diese, nicht zuletzt dank der altbewährten Komplizenschaft von Sabine Azéma, auch gezeichnet sein mögen.

Ist das alles aber auch realistisch?, werden sich wohl einige ungläubig fragen. Muss das Kino denn immer realistisch sein?, wäre zurückzufragen. Resnais’ Erkundungen des Menschlichen mitsamt seinen Erinnerungs-, Imaginations-, Wunsch- und Albtraumebenen haben in fast all seinen Filmen tiefere Regionen des être humain zutage gefördert, als sie unsere Alltags“realität” offenbart. Und der Name der Hauptfigur liefert eine weitere Fährte: In The Ghost and Mrs. Muir von Joseph L. Mankiewicz (1947) ist der ältere Seebär, der sich in die junge Witwe Mrs. Muir verliebt, ein Geist. Alles, was Menschen erdenken, hat, so phantastisch es erscheinen mag, letztlich mit unserer menschlichen Natur zu tun.

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Ohnehin bewahren Resnais’ Figuren ihre Dunkelzonen, geheimnisvolle Bereiche ihrer Existenz, die wir nur erahnen. Georges Palet, dieser offenbar pensionierte Familienvater, scheint, weil er die Kontrolle über sich verloren hatte, schon mit dem Gesetz in Konflikt geraten zu sein. Und Mademoiselle Muir, die gut verdienende Zahnärztin mit eigener Praxis und Hobbyfliegerin: Möchte man sich wirklich ihrem Bohrer anvertrauen, oder versteckt sich hinter ihrer Distanziertheit auch ein Quentchen Sadismus? Doch Resnais bringt uns zugleich den Wunsch, aus den scheinbar vorgezeichneten, so stark reglementierten und kontrollierten Lebensbahnen auszubrechen, äusserst nahe. Georges, der auf Geheiss seiner Frau den Rasen zu mähen hat und beim rituellen sonntäglichen Familienessen am Grill steht, er kann einem auch leid tun. Wie Resnais diese Szene inszeniert, ist ein Bravourstück für sich: Die Kamerabewegungen raffen den Anlass über evidente Zeitsprünge hinweg zu einem «plan séquence» zusammen, er lässt uns von der plätschernden Konversation nur Bruchstücke hören und liefert uns so ein erhellendes Konzentrat der erstickenden Familienkonventionalität. Wer wollte da nicht (aus)fliegen?

Mit einer augenzwinkernden Metapher verabschiedet uns Resnais: Wie die Jungen wollen seine angegrauten Figuren hoch hinaus, in die grenzenlose Freiheit der Lüfte, sie steigen auf mit dem Kleinflugzeug, die Pilotin überlässt grosszügig das Steuer auch einmal dem Mann, die Fortsetzung sehen wir von aussen: sie fliegen Volten. An einem Ort und mit einem Flugzeug, die dafür – wie uns ein in der Nähe auf seinem Traktor sitzender Bauer belehrt – nicht zugelassen sind.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2010 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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