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Tetro

Angelehnt an E.T.A. Hoffmanns romantischer Erzählung «Der Sandmann» dreht sich «Tetro» um die düstere Familiengeschichte des gleichnamigen Protagonisten: Mit dem plötzlichen Auftauchen des jüngeren Bruders Bennie wird dieser von schrecklichen Ereignissen aus seiner Vergangenheit heimgesucht.

Text: Michael Pekler / 26. Mai 2010

In E. T. A. Hoffmanns Schauerroman «Der Sandmann» gibt es eine Figur namens Coppola. Der italienische Wetterglashändler versetzt dem Protagonisten Nathanael einen gehörigen Schrecken, als dieser glaubt, in ihm einen grässlichen Mann aus seiner Kindheit wieder zu erkennen: Damals besuchte ein gewisser Coppelius, ein Alchemist, Nathanaels Vater, um gemeinsam mit ihm Experimente durchzuführen. Für Nathanael und seine Geschwister waren die Besuche des furchteinflössenden Coppelius wie jene des Sandmanns, der anstatt einer Gute-Nacht-Geschichte das Unheil brachte: Der Vater sollte die Besuche des fremden Alchimisten nicht überleben, und der Sohn fortan von Albträumen geplagt werden.

Auch Francis Ford Coppola erzählt in Tetro eine düstere Familiengeschichte, und die Verbindung zu Hoffmanns «Sandmann» beschränkt sich nicht nur auf die Namensgleichheit von amerikanischem Regisseur und italienischem Händler: Immer wieder durchbrechen Bilder aus The Tales of Hoffmann von Michael Powell und Emeric Pressburger den Film, ebenso knallbunte Szenen einer Ballettaufführung der auf Hofmann beruhenden «Coppélia». Auch tetro erzählt von den Albträumen und Wahnvorstellungen eines Sohnes, auch hier holt die Vergangenheit die Gegenwart ein, wird die Erinnerung zur tonnenschweren Last und arbeitet sich das Trauma an die Oberfläche hoch.

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Doch die literaturhistorischen Verweise auf Hoffmann und das Maschinenmädchen mit den Glasaugen sind nur zwei ineinander verwobene Stränge in einem ganzen Netz an Referenzen und Metaphern, das Coppolas jüngsten Film durchzieht. In Tetro, so viel sei vorausgeschickt, kann man sich heillos verheddern – oder sich wissentlich einwickeln lassen. Denn auch Tetro ist eine Aufarbeitung, ein in weitgehend Schwarzweiss gefilmter Monolith (als «diamant noir» betitelten ihn vergangenes Jahr die «Cahiers du cinéma»), der vom Untergang erzählt und dabei selbst das Risiko eines solchen nicht scheut. Das beginnt bereits bei seinem Hauptdarsteller: Vincent Gallo, begnadeter Egomane, spielt einen Mann mittleren Alters namens Angelo, der sich als Schriftsteller in Buenos Aires niedergelassen hat und Tetro nennt. Mit einem Gipsbein – äusseres Zeichen seiner Versehrtheit – humpelt er durch die Strassen, plaudert im Künstlerviertel La Boca freundlich mit den Einheimischen auf Spanisch und arbeitet in einem kleinen Theater als Beleuchter (eine weitere Verbindung zu Hoffmanns alchemistischem Glashändler und Lichtmacher). Eine Zeitlosigkeit legt sich hier über die Szenerie und zugleich eine Vertrautheit, die man mit südeuropäischen Städten der Vierzigerjahre verbindet. Buenos Aires ist für ihn ein sicherer Fluchtort, ausgerechnet jene Stadt, die – von Charles Vidors gilda über Martin Donovans Apartment Zero bis Wong Karwais Happy Together – für den Fremden im Kino nicht von ungefähr oft Geheimnis und Traum bleibt.

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So bleibt auch Tetros Vergangenheit im Dunkeln, bis eines Tages ein im schmucken Matrosenanzug steckender Mann auftaucht, der ihn bewundert – sein jüngerer Bruder Bennie. Doch dieser betrachtet Tetro auch als grossen Rivalen – sozusagen eine Variante auf den Bruderzwist in Coppolas Rumble Fish –, und Stück für Stück enthüllt sich nun in Form von Rückblenden eine Familienchronik der schrecklichen Ereignisse. Diese Erinnerungsfetzen taucht Coppola – und das ist nur einer von zahlreichen Coups in diesem Film – in satte Farben, die sich gegenüber dem monochromen argentinischen Alltag wie irreale Bruchstücke verhalten. Und wer sich aus dieser Vergangenheit als überdimensionale Vaterfigur herausschält, ist Klaus Maria Brandauer als Carlo Tetrocini, weltberühmter New Yorker Dirigent und ein einsamer Machtmensch wie Fitzgeralds «Great Gatsby», den Coppola seinerzeit für die Leinwand adaptierte. Er war es, der Tetros Flucht nach Südamerika zum letzten Ausweg werden liess; er war es, der dem ältesten Sohn alles nahm, was diesem zu nehmen war. «What will you write about?», fragt er Tetro vor dessen Rückzug ins Exil. Als ob er es nicht wüsste.

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Was Tetro geschrieben hat – das Manuskript hält er seit Jahren in einem Koffer versteckt –, ist nur für die Erzählung interessant, aber wie er geschrieben hat, für die Inszenierung: Denn die Kritzeleien, für deren Entzifferung ein Spiegel vonnöten ist, sind buchstäblich nur vordergründige Zeichen. Dahinter verbirgt sich eine Geschichte der puren Wut und Verzweiflung. Die Spiegelung vollzieht sich dabei auf mehreren Ebenen, dient Coppola und seinem Kameramann Mihai Malaimare als Ausdruck für einen unablässigen Kampf der Kräfte: Die Farbe als Mittel des Exzesses steht einem kontrastreichen Schwarzweiss gegenüber (gedreht ist der Film, wie auch Michael Hanekes monochromes Epos das weisse Band, in Digital); Carlo Tetrocini, den Brandauer mit der ihm eigenen Exaltiertheit spielt, findet sein Spiegelbild in seinem Bruder, den er gnadenlos vom Dirigentenpult verdrängt (ebenfalls gespielt von Brandauer in einer Doppelrolle). Und nicht zuletzt endet auch die Rivalität zwischen Tetro und Bennie auf einer Bühne: Am Ende führt die beiden ihr Weg zu einem Theaterfestival nach Patagonien, vorbei an riesigen Gletschern, die das Sonnenlicht reflektieren. Hier endlich schliesst sich dann der Bogen zum ersten metaphorischen Bild dieses Films, in dem das Licht eines Scheinwerfers magisch die Motten anzieht.

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In den vergangenen zehn Jahren hat Francis Ford Coppola mit Youth without Youth einen einzigen Film inszeniert, mit bescheidensten Mitteln und von der Kritik mehrheitlich gescholten. Viele sahen sich darin bestätigt, dass der Regisseur von The Godfather und Apocalypse Now endgültig «seine Kreativität verloren» hätte, wie etwa der Filmpublizist Robert Kolker in seinem Standardwerk «A Cinema of Loneliness» behauptete – und in der zweiten Auflage seines Klassikers über den amerikanischen Autorenfilm Coppola durch Steven Spielberg ersetzte. Man kann es aber auch anders sehen, nämlich dass Coppola im Gegensatz zu seinen früheren Weggefährten des New Hollywood eher zu kompromisslos auftrat: Den grossen Umwälzungen der Kino-industrie hielt er seine eigene Produktionsfirma «American Zoetrope» entgegen; noch bei Auftragsarbeiten wie Peggy Sue got Married Mitte der Achtzigerjahre legte er Wert auf möglichst grosse Autonomie; und nicht zuletzt schien es, als wären in den Neunzigern die Wesenszüge der fiktionalen Charaktere des Autors und Produzenten Coppola endgültig auf ihren Schöpfer übergegangen: die Masslosigkeit in Bram Stoker’s Dracula oder die Suche nach “wahrer” Grösse in Kenneth Branaghs von ihm produziertem Mary Shelley’s Frankenstein trugen ihr Scheitern schon in sich.

Eben das ist auch eine der grössten Qualitäten von Tetro: Coppola, nach wie vor einer der bedeutenden postklassischen Visionäre, kann sich gar nicht auf reines Referenzkino beschränken, sondern muss – nicht zuletzt als sein eigener Autor – selbst etwas neues “Grosses” schaffen. In diesem eigenen Drang zur Grösse ist er natürlich nahe dran, alle Rahmen zu sprengen: den der Erzählung, der Bildgestaltung, des Tons und der Montage, für die einmal mehr Walter Murch verantwortlich zeichnet. Dirigent des Films bleibt aber Coppola selbst.

«Nichts in dieser Geschichte hat sich zugetragen», meint Coppola über Tetro, «aber alles ist wahr.» Sein eigener Vater, ein Dirigent und Filmkomponist, wurde, wie Coppola einmal bemerkte, in seiner Kindheit in die Abendgebete der Familie eingeschlossen. Als in E. T. A. Hoffmanns «Der Sandmann» Coppelius dem jungen Nathanael die Augen ausstechen will, weil dieser ihn beobachtet hat, bittet der Vater für den Sohn und ruft: «Meister, lass ihm die Augen!»

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2010 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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