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Arme seelen 02

Arme Seelen

Text: Martin Walder / 12. Jan. 2011

Alle haben wir unsere Begegnungen der anderen Art und wissen von ihnen zu berichten. Wenn einem zum Beispiel, mit fünf, nachts allein im Kinderzimmer – die Eltern sind ausser Haus – jemand die Hand drückt. Heisst, wenn man derlei nie mehr vergessen hat, dass es wirklich so war? Oder war es bloss die Stuhllehne neben dem Bett, die man im Traum ergriff? Der Stadtmensch hat natürlich gleich seine Erklärungen parat. Und doch ist in der unauslöschlichen Erinnerung ein Rest von Geheimnis geblieben. Ein leichtes Vibrieren. Was ist denn schon wirklich?

Der Luzerner Filmer Edwin Beeler, 52, erinnert sich auch an die schlaflosen Nächte seiner Kindheit. Und für die alten Älpler und Bäuerinnen aus der Innerschweiz zwischen Bürglen und dem Entlebuch, die in seinem neuen Film zu Wort kommen, gibt es keinen Zweifel: Die Seelen von Verstorbenen sind unter uns. Sie begegnen uns, vorzugsweise am selben Ort, sind da und dann gleich nicht mehr da, sind Schemen oder Lichter. Arme Seelen seien sie, die noch unterwegs sind, vielleicht, weil sie im Leben nicht gut getan haben, glauben die Menschen, die davon wissen. Von einem, der die Sennen seiner Alp ausgebeutet habe, ist die Rede, oder von einem, der in der Futterkrippe im Stall ein Mädchen von Sinnen zurückgelassen habe, als habe er sich an ihm vergriffen. Die es erzählen, wissen es noch aus erster Hand, um es zu beglaubigen. Denn so viel ist auch ihnen klar: Bloss «vom Naasäge leersch lüge».

Arme seelen 01

Dieser und jener habe es mit eigenen Augen gesehen und könne einen Eid drauf schwören, wird in diesem Film immer wieder bekräftigt. Als ob wirklicher wäre, was man mit eigenen Augen gesehen hat. Wenn Arme Seelen etwas zeigt, dann dies: Wirklichkeit ist allein eine Sache der Wahrnehmung. Ob psychologisch, physiologisch oder theologisch erklärbar, ist letztlich nicht von Belang. Man kann etwas sehen, und es “stimmt” nicht, oder man sieht nichts, und weiss, dass es dennoch wirklich ist. Der Wahrheitsfrage stellt sich Edwin Beeler in seinem Film nicht, und schon gar nicht versucht er, sozusagen mit der Infrarotkamera irgendwelcher Gespenster habhaft zu werden.

Hingegen sind die Erzählungen im Film als kulturgeschichtliche Zeugnisse weit
läufig eingebettet einerseits in die schön-schaurige Bergnatur mit ihren dunklen Zacken und drohenden Gipfelkreuzen, ihren einsamen Wäldern und Schneefeldern, anderseits in die güldene Ikonenwelt und in die Fürbitten der katholischen Rituale, die alle nur das Eine vor Augen haben: unsere Erlösung, verbunden mit der alten Drohung der Verdammnis, zumindest jener auf Zeit. Und man beginnt zu ahnen, wie in den Resten einer ländlichen Lebensweise die Rituale des Natur-Alltags und des kirchlichen Glaubens unserer Seele Gewissheiten der spirituellen Art förmlich zuspielen müssen, um sie dann unseren privaten und kollektiven “Inszenierungen” zu überlassen.

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Von deren Präsenz will dieser Film erzählen. Er tut es, indem er seine Zeugnisse aus Küche und Stall ausbreitet und auf die Reihe bringt. Eine schöne Ruhe ist ihm eigen. Immer wieder leitmotivisch schwarze Gipfel vor eilenden Wolken, archaische Panoramen, hienieden dann Prozessionen und bunte Statuen. Ein diskreter, aber insistenter Soundtrack grundiert die Welt übersinnlich und hintersinnig. Diese Montageart hat etwas Verführerisches und könnte einen schon in einen Sog hineinziehen, der in der Kumulierung die jenseitige Wirklichkeit findet, ohne sie kommentieren oder beurteilen zu müssen. Aber verschweigen wir es nicht: Dazu hat dieser Film vielleicht dann doch nicht genügend innere Imagination und gestalterische Kraft. Ganz leise beginnen die Leitmotive schütterer und die Erzählungen ein wenig geheimnislos zu klingen, und zu bald hat uns die hartgesottene Städterseele wieder.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2011 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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