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Restless 02

Restless

Text: Michael Ranze / 02. Nov. 2011

Gus Van Sant, Regisseur von Drugstore Cowboy und Elephant, lässt sich an ehesten mit seinem Kollegen Steven Soderbergh vergleichen. Zwei Filmemacher, die scheinbar mühelos zwischen Arthouse und Mainstream pendeln, die höchst persönliche Werke inszenieren und trotzdem keine Berührungsängste mit Hollywood haben. Ganz egal, ob bekannte Stars oder grosse Budgets – Van Sant und Soderbergh drücken auch kommerziellen Filmen wie Good will Hunting oder Ocean’s 11 ihren eigenen Stempel auf. Zum einen, weil sie es können, zum anderen, weil sie mit ihren Geschichten auch ein grosses Publikum erreichen wollen. Darum ist die Meinung, Gus Van Sant habe mit Restless seinen konventionellsten, einem Blogger zufolge sogar seinen «schlechtesten Film» inszeniert, erst einmal ein Missverständnis. Van Sant mag zwar die Erwartungshaltung seiner Anhänger unterlaufen und eine einfache Geschichte erzählen. Doch mit der Begegnung zweier Aussenseiter, mit der Erkundung der Seelenwelt Jugendlicher, knüpft er nahtlos an Filme wie My Own Private Idaho oder Paranoid Park, ja sogar Finding Forrester an. Figuren, die sich nicht anpassen und auf der Suche sind.

Das gilt auch für Enoch Brae, dargestellt von Henry Hopper, dem Sohn von Dennis Hopper (dem der Film gewidmet ist). Zu Beginn des Films sehen wir ihn als Trauergast auf einer Beerdigung. Eigenartigerweise spricht niemand mit ihm, niemand scheint ihn zu kennen – als sei er unsichtbar. Und dann bestätigt sich mit der nächsten Beerdigung der Verdacht: Enoch ist ein funeral crasher, der durch den Tod anderer – darin durchaus dem jungen Helden aus Hal Ashbys Harold and Maude vergleichbar – wie ein Magnet angezogen wird. Der Grund: Enochs Eltern starben bei einem Autounfall, eine Katastrophe, die ihn zutiefst traumatisiert hat. Bei einem dieser Begräbnisse lernt er Annabel kennen. Sie ist hübsch, charmant, intelligent, eloquent, dem Leben zugewandt – obwohl sie bald sterben wird.

Restless 03

Denn Annabel hat Krebs. Durch ihre Nähe zum Tod hat sie in Enoch einen Seelenverwandten ausgemacht, dessen Panzer es beharrlich zu knacken gilt. Der Junge reagiert zunächst verschlossen auf ihre Annäherungsversuche: Wer wird schon gern als ungebetener Trauergast entlarvt? Übrigens hat er einen Freund, Hiroshi, der sich allerdings – in der wohl ungewöhnlichsten Idee des Films – als Geist eines japanischen KamikazeFliegers entpuppt. Für den Zuschauer ist er allerdings ganz normal zu sehen, und da auch Annabel das Spiel mitspielt, legt sich eine Unsicherheit über die Figur, die sich bis zum Schluss nicht lösen wird: Geist? Mensch? Der Zeit entflohenes Fabelwesen? In jedem Fall ist Hiroshi eine Projektionsfigur, die auf die Möglichkeit des Jenseits verweist und Enochs Todessehnsucht noch einmal spiegelt. Erst durch die Nähe zum Tod wird er das Leben schätzen lernen.

Auch Annabel scheint aus einer anderen Zeit zu stammen. Mit ihrem vintage look, der Hüte und Kleider der zwanziger mit denen der sechziger Jahre kombiniert, und den kurzen Haaren verbindet sie gleichzeitig so unterschiedliche Frauentypen wie Louise Brooks und Audrey Hepburn, Mia Farrow und Jean Seberg. Dass Mia Wasikowska (Alice in Wonderland), die Darstellerin der Annabel, erst kürzlich in Jane Eyre eine ähnlich starke, warmherzige und natürliche Frauenfigur verkörperte, die durch ihre Kleider in die Rolle gezwungen oder besser: definiert wird, kann kein Zufall sein.

Fortan verbringen Annabel und Enoch immer mehr Zeit miteinander. Spaziergänge im Wald, ausgelassenes Feiern auf einer Halloween-Party, Gespräche über die Natur und Darwin (für den Annabel schwärmt, um so noch einmal ihren unsentimentalen Blick auf den Tod zu unterstreichen).

Restless 01

Dann die erste Liebesnacht. Dabei verweigert sich Gus Van Sant jener Sentimentalität, die aus Arthur Hillers Love Story einen so grossen Kassenerfolg gemacht hatte. Hier gibt es keine Krankenhausflure, keine bedeutungsschweren Dialoge, kein Bedauern. Die einzige Szene, die das Pathos von Love Story mit tränentreibenden Worten nachempfindet, entpuppt sich als spielerische Paraphrase, die die beiden Teenager zur Überraschung des Zuschauers inszeniert haben. Deutlicher kann man sich vom Vorgänger und seinen melodramatischen Versatzstücken nicht distanzieren. Sicher geht es auch hier um Schmerz, Trauer und Abschiednehmen, um Verlust und Endlichkeit. Doch Van Sant ersetzt sentimentale Rührseligkeit durch lebensbejahende Melancholie. Dabei fungiert die Figur der Annabel als Katalysator, um Enoch ins Leben zurück zu holen.

Restless begann ursprünglich als eine Serie von kurzen Stücken, die Drehbuchautor Jason Lew, ein Studienkollege der Produzentin dieses Films, Bryce Dallas Howard (die man als Schauspielerin aus Lady in The Water kennt), geschrieben und nun zu einem Drehbuch verknüpft hat. Ein wenig merkt man dem Film das Bruchstückhafte der Vorlage noch an. Van Sant reiht einzelne Vignetten aneinander und folgt keinem dramaturgischen Spannungsbogen. Das gibt dem Film etwas Skizzenhaftes, Hingeworfenes, Unaufgeregtes. Der Regisseur bleibt bei seinen Figuren, beobachtet sie aufmerksam und konstatiert ihre Eigenarten. Der Schwere des Themas setzt er eine märchenhafte Originalität entgegen, der durch den Soundtrack, von den Beatles über Nico bis zum Indie-Rock, etwas angenehm Zeitloses anhaftet. Wie überhaupt der Film die Gegenwart ignoriert: keine Mobiltelefone, keine Computer, keine Arbeitswelt. Hier geht es einzig um zwei Liebende, die nicht mehr viel Zeit haben. Und darum alles um sich herum vergessen.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 7/2011 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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