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Gamin au velo 01

Le gamin au vélo

Text: Martin Walder / 07. Dez. 2011

Man traut seinen Augen nicht: Es ist Sommer geworden bei den Frères Dardenne. Zum ersten Mal. Sie, die bisher immer im Winter gefilmt haben, weil sie wollten, dass es kalt ist. Weil, wie sie sagen, «wir dieses graue, steinerne Licht ohne Sonne wollen, das die Farben hervortreten lässt». Es ist ein Licht, das einen taghell scharfen Blick auf die Schattenseite der sozialen Existenz werfen lässt, der die Brüder in ihren schlackenlosen Geschichten beharrlich auf der Spur sind. Film für Film. Und immer auf der Höhe einer dokumentarischen Meisterschaft fiktiver Lebensläufe, die ihresgleichen sucht. Nur dass es, eine kleine Gefahr, fast zur Gewohnheit geworden ist.

Das belgische Städtchen Seraing, ein paar Kilometer vom wallonischen Hauptort Lüttich gelegen, ist der Schauplatz geblieben. Hier haben Jean-Pierre und Luc Dardenne Teile ihrer Jugend verbracht, hier haben sie die Mehrzahl ihrer Dokumentarfilme realisiert und bis jetzt ihre Spielfilme: La promesse, Le fils, Rosetta, L’enfant, Le silence de Lorna. Und nun, in Le gamin au vélo, ist es also Sommer, der dazu verführt, mit dem Velo ausserhalb der Stadt der Maas entlang zu promenieren. Ist denn die Welt etwas wärmer geworden? Man wird es nicht behaupten wollen, wenn man aus dem Kino tritt. Zu viele Fragen bleiben offen, federgewichtig ist die Hoffnung, dass das Leben sich zum Guten wenden würde.

Und doch ist Hoffnung da. Es gab sie schon zum Ende des letzten Spielfilms Le silence de Lorna, wenn die Albanerin Lorna auf der Flucht vor ihren Häschern in einer Waldhütte zu ihrem Kind im Bauch spricht und die Dardennes sich sogar Musik aus der Arietta von Beethovens letzter Klaviersonate erlaubten. In Le gamin au vélo nun bekräftigen ein paar Takte aus dem langsamen Satz von dessen letztem Klavierkonzert zart, schüchtern, doch insistent und unendlich schön, dass Empathie nicht folgenlos bleiben muss.

Gamin au velo 02

Der gamin au vélo heisst Cyril, er ist ein zwölfjähriger Heimzögling und hat nur eines in seinem wachen, blonden, unbeugsamen Bubenkopf: seinen Vater zu finden. Den spielt, als Beizenkoch, Jérémie Renier, der Dardenne-Stammschauspieler mit dem freundlichen Gesicht und dem schrecklich leeren Gemüt, dessen “Läuterung” schon in L’enfant sehr zwielichtig blieb. Wieder ist er ein junger Vater, der sein Kind – diesmal im übertragenen Sinn – “verkauft”, von ihm nichts mehr wissen will. Cyril ist allein auf der Welt; liegt er in seinem Kajütenbett, puppt er sich vor Schmerz in seiner Bettdecke ein wie eine sich aufbäumende Mumie. Oder er haut
ab, rennt oder pedalt so schnell, wie einer schnell nur sein kann, der sein Leben um jeden Preis selber unter die Füsse nehmen will.

Unglaublich wieder dieser Junge ohne jede Leinwanderfahrung, den die Brüder unter hundert andern auf ein Zeitungsinserat hin gefunden haben. Im Casting unverbrauchter Gesichter macht den Dardennes in der ganzen Filmwelt niemand etwas nach, sie haben den untrüglichen Blick. Im dreizehnjährigen Thomas Doret ist nichts als geballte Energie, wir sehen – fast in jeder Einstellung – ein schutzbedürftiges wildes Kind mit instinktivem Überlebenswillen, bereit zur Gewalt, unzähmbar. Die Coiffeuse Samantha, in die der Kleine in einer Arztpraxis auf seiner Flucht hineinplumpst und sie vom Stuhl zu Boden reisst, weiss das alles noch nicht. Auch sie handelt instinktiv, wenn Cyril sie nicht mehr loslässt. Und sie ihn.

Fast waghalsig erscheint die Besetzung Samanthas mit der Belgierin Cécile de France, einer Schauspielerin mit einigem Glamour. Hier strahlt sie eine schöne Sprödheit aus und unterläuft jede Versuchung zum Engel, zum Schutzengel. Anderthalb Probenmonate in Dekor und Kostümen hätten ihr erlaubt, einer Mütterlichkeit in der Darstellung zu entsagen und die geforderte Neutralität zugunsten einer «force de la simplicité» zu erarbeiten, sagt die Schauspielerin. So haben die Dardennes ihr auch jede Psychologie ausgetrieben, die sie uns in ihrem Verhalten erklärbar machte, wenn sie etwa, vor die Wahl gestellt, sich ohne Zögern gegen ihren Freund und für den Jungen entscheidet.

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Dies irritiert in dem Film manchmal unser Bedürfnis nach Plausibilität, doch solche Leerstellen in der elliptischen Erzählweise nehmen die Brüder in Kauf, wie auch jene, dass Cyril sich gar naiv mit einem üblen Dealer und Kriminellen einlässt, der ihn auch prompt in die Bredouille bringt. Die Botschaft dahinter: Die Menschen sind nicht erklärbar. Sie handeln, wie sie handeln, zum Bösen hin wie zum Guten. Und sie lernen. Auch die einzelnen Schritte von Cyrils “Adoptation” durch Samantha interessieren die Dardennes nicht unbedingt. Wir müssen sie uns aus dem weiteren Verlauf zusammenreimen. Die Verkürzungen und Auslassungen im Erzählfluss sind keine stilistische Marotte, sondern Prinzip einer inneren Folgerichtigkeit der Geschichte. Sie setzen nüchtern deren Puls.

Wie alle Filme der Brüder ist auch Le gamin au vélo schnelles, körperliches Kino. Man könnte auch sagen faserig muskulös in dem Sinne, dass kein Gramm Fett zu viel dran ist. Gefühle werden nicht auf der Leinwand ausgebreitet, sondern evoziert – die Nähe zu den Filmen Robert Bressons ist auch hier wieder unverkennbar. Bei jenem gab es, vor seinem jansenistischen Hintergrund, das Moment möglicher Gnade.
Man mag den Begriff bei den Frères Dardenne eigentlich nicht gebrauchen, aber dass sich Cyrils Schicksal dank Samantha
als gnädig erweisen könnte, ist nicht von der Hand zu weisen. Und weil Jean-Pierre und Luc Dardenne deutlicher als auch schon daran festhalten wollen, dass Menschen sich zum Guten hin verändern können, haben sie vielleicht jetzt im Sommer gedreht.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 8/2011 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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