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Biutiful 08

Biutiful

Text: Michael Ranze / 02. Mär. 2011

Alejandro González Iñárritu ist ein Meister der Verschränkung. Egal ob Amores Perros (2000), 21 Grams (2003) oder zuletzt Babel (2006) – stets verwebt der mexikanische Regisseur unterschiedliche Erzählstränge und setzt dabei einzelne Elemente aus Struktur und Zeit zu einem einzigartigen Filmmosaik neu zusammen. Dabei fächert er mehrere Milieus auf, so wie in Amores Perros, mehrere durch ein Schicksal verbundene Gruppen, so wie in 21 Grams, sogar mehrere Kulturen und Kontinente, so wie in Babel. Anlass der Erzählung kann ein Unfall sein, ein Gewehrschuss, in jedem Fall eine Erschütterung, deren Stosswellen sich in verschiedenen Richtungen ausbreiten. Der kontinuierliche Wechsel zwischen den Erzählvignetten unterstreicht die gegenseitige Abhängigkeit der Protagonisten. Nichts geschieht, ohne dass es nicht jemand anderen beträfe. Dieses vignettenhafte Erzählen ist sicher von den Filmen eines Robert Altman (Nashville, Short Cuts) und eines Jim Jarmusch (Mystery Train, Night on Earth) beeinflusst. Das Aufsplittern der Geschichte verleiht Iñárritus Filmen, wie bei den Vorbildern, emotionale Wucht, aber auch kritische Authentizität. Der Regisseur wirft einen Blick auf soziale Missstände und Gegensätze. Er verbindet das Schicksal von Menschen, die sich nicht kennen und doch in einem Punkt, in einem Moment, tragisch berühren. Ohne eine sorgfältige Inszenierung, ohne einen makellosen Schnitt wäre das nicht möglich.

Biutiful 06

Durchs Labyrinth

Biutiful ist nun sein linearster, zugänglichster Film. Das bedeutet: Der Regisseur konzentriert sich, im Gegensatz zu den Vorgängern, auf eine Hauptfigur und verfolgt chronologisch deren letzte Lebenswochen. Doch Alejandro González Iñárritu wäre nicht Iñárritu, wenn er nicht in Subplots verschiedene Webfäden auswürfe, die der Held aufgreifen und mühsam miteinander verknüpfen muss. Er schickt seinen Helden durch ein Labyrinth, das viele Wege, aber nur ein Ziel hat: Er muss das Leben mit dem Tod versöhnen. Da gibt es keine gesicherten Antworten.

Im Mittelpunkt von Biutiful steht Uxbal. Alejandro González Iñárritu, der zusammen mit Amando Bo und Nicolás Giacobone auch das Drehbuch schrieb, charakterisiert ihn selbst als «liebenden Vater, aufgewühlten Liebhaber, verlorenen Sohn, Geschäftsmann im Untergrund, sensiblen Spirituellen, Produkt-Piraten, einen Mann mit schlechtem Gewissen, einen Überlebenden der Grossstadt». Ein Mann mit vielen Talenten also, die sich teilweise widersprechen und gegenseitig aufheben.

Uxbals Welt ist Santa Coloma, ein Vorort Barcelonas, in dem Senegalesen, Chinesen und Pakistani, Sinti und Roma, Rumänen und Indonesier friedlich und ohne Probleme auf engstem Raum zusammenleben. Eine Art Parallelwelt, wenn man so will, denn von Integration in die spanische Gesellschaft kann keine Rede sein. Und schon ist man bei Babel, in dem es ebenfalls um Abschottung und Einwanderung, Rassismus und Vorurteile ging. Iñárritu zeigt uns ein unbekanntes Barcelona. Dies ist nicht mehr die heimliche Hauptstadt Europas mit bedeutender Kultur und aufregendem Nachtleben. Dies ist eine Stadt der Illegalen und Immigranten, der Verbrecher und Polizisten, des Elends und des Schmutzes. Keine Spur von Sommer und Touristen. Barcelona – eine düstergefährliche Metropolis.

Biutiful 12

Alles zerrinnt

Uxbal beschäftigt, zusammen mit seinem älteren, unzuverlässigen Bruder Tito, illegal chinesische Einwanderer, die für wenig Geld in einem düsteren Keller Taschen und Sweatshirts nähen und gleich nebenan auf Pritschen schlafen. Er kopiert illegal Filme und verscherbelt sie. Er verdingt sich als Mittler zwischen schwarzen Dealern, die in der Innenstadt Barcelonas Drogen verkaufen. Durch Handauflegen stellt er sogar Verbindung mit Verstorbenen her – gegen Bares, versteht sich. Das ist die eine Seite.

Die andere zeigt ihn als verständnisvollen Vater, der sich mit liebevoller Strenge um seine beiden Kinder, Mateo und Ana, kümmert. Das muss er auch, denn seine Ex-Frau leidet an einer bipolaren Störung und ist dem Alltagsleben nicht mehr gewachsen. Uxbal ist trotz seiner illegalen Aktivitäten und falschen Entscheidungen ein guter Mann. Doch die Verhältnisse entziehen sich mehr und mehr seiner Kontrolle. Dann entdeckt er beim morgendlichen Gang zur Toilette Blut im Urin. Die Diagnose: Prostatakrebs, der schon auf die Leber übergegriffen hat. Uxbal hat nur noch zwei Monate zu leben. Erst jetzt beginnt der eigentliche Film – die Geschichte eines Mannes, dem die Zeit davonläuft. Verzweifelt versucht er, im komplizierten Labyrinth seines Lebens einen Ausweg zu finden, die Disparatheit seiner zahlreichen Geschäfte zu einem sinngebenden Ganzen zu fügen. Aber alles, was er mit den besten Absichten anfasst, zerrinnt ihm in den Händen.

Biutiful 05

Bewegende Darstellung

Es ist fast schon beängstigend mit anzusehen, wie Javier Bardem sich diese Rolle anverwandelt hat. Die Sorgen und Nöte drücken wie Blei auf seine Schultern, man sieht es seinem gebeugten, schleppenden Gang und dem schweisstropfenden Gesicht an. Bardem, der so abgrundtief böse sein konnte in No Country for Old Men, so bestimmt verführerisch in Vicky Cristina Barcelona und so feurig charmant in Eat Pray Love, trägt das ganze Leid, den unausgesprochenen Schmerz, die beklemmende Trauer, die spürbare Todesangst seiner Filmfigur wie ein Kreuz mit sich herum. Ein Blick in seine unsteten, niedergeschlagenen Augen offenbart sein ganzes Dilemma: Da liebt einer das Leben und hat es doch verloren – obwohl es noch soviel zu ordnen gibt.

Trotzdem hat Iñárritu zusammen mit Bardem eine Darstellung erarbeitet, die auch eine Geschichte der Hoffnung entfaltet. Uxbal akzeptiert seinen nahen Tod, er vergibt sich selbst und anderen und fühlt mit seinen Kindern, die bald Waisen sein werden – so wie er selbst ohne Vater aufwuchs. All das ist in Bardems bewegender, anrührender Darstellung enthalten. Es ist zweifellos die beste des vergangenen Kinojahres (Biutiful wurde bereits bei den Filmfestspielen von Cannes 2010 uraufgeführt). Dafür wurde Javier Bardem zurecht für den Oscar nominiert.

Biutiful 01

Masslos

Biutiful, benannt nach einem Schreibfehler eines der Kinder, beginnt ganz leise, mit einem Flüstern. Vater und Tochter sprechen über einen Ring, der seit Generationen weitergereicht werde. Doch wir sehen nur die Hände. Während der Vater dem Mädchen den Ring überstreift, wechselt das Bild zu einem grauen Wald. Die Bäume sind kahl, zwei Männer – einer von ihnen ist Uxbal – treffen sich in der Kälte, eine tote Eule liegt im Schnee. Wiederum etwas, was auf eine Legende zurückgeht. In wenigen Momenten entwerfen Iñárritu und sein ständiger Kameramann Rodrigo Prieto eine entrückte, unwirkliche Traumwelt, die dem Realismus der nun folgenden Geschichte zu widersprechen scheint und ihm so zusätzliche Kraft verleiht.

Nicht von ungefähr haben zwei Filmjournalistinnen aus unterschiedlichen Ländern, Betsy Sharkey aus Los Angeles und Katja Nicodemus aus Berlin, denselben Terminus

zur Charakterisierung von Biutiful gewählt: Der Regisseur habe einen «emotionalen Tsunami» geschaffen. In der Tat, Alejandro González Iñárritu überrollt den Zuschauer mit einer emotionalen Wucht und erzählerischen Themenvielfalt, die – wenn man überhaupt davon sprechen will – die einzige Schwäche des Films ist. Der Regisseur will möglichst viel sagen, über Krankheit und Tod, Hoffnung und Vergebung, Verbrechen und Ausbeutung. Ein wenig hat er das Mass verloren. Doch vielleicht ist es gerade diese Masslosigkeit, die aus seinem Film ein so beeindruckendes und magnetisierendes Meisterwerk gemacht hat.

Biutiful 09

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2011 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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