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En familie

Text: Kathrin Halter / 02. Mär. 2011

«Es war, wie die Büchse der Pandora zu öffnen.» Als die dänische Filmemacherin Pernille Fischer Christensen nach drei Kurzfilmen und zwei Spielfilmen (En soap, 2006; Dansen, 2008) nach einem neuen Projekt Ausschau hielt, stiess sie auf alte, autobiografische Notizen. Sie hatte sie unmittelbar nach dem Krebstod ihres Vaters im Jahr 2001 verfasst und sie seitdem nie mehr angesehen. «Überraschend beim Wiederlesen war auch, dass die Texte weniger vom Tod meines Vaters handelten als von meiner Familie», sagt sie dazu in einem Gespräch. Das Filmskript, das aus den Notizen entstand, verfasste sie gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Schriftsteller und Drehbuchautor Kim Fupz Aakeson. Der fiktive Plot – muss man es überhaupt sagen? – weicht von Fischers Familiengeschichte mehrfach ab. Dennoch ist daraus ihr bislang persönlichster Film geworden. Ein Film mit vielen Familienthemen und einem Gravitationspunkt, um den sich alles dreht: das Sterben des Vaters.

Der Filmvater ist ein sanfter Patriarch alter Schule. Der Besitzer der dänischen Traditionsbäckerei Rheinwald, der Hoflieferantin, liebt seine Familie. Firma und Familie sind sein Reich – und so führt er die Familie wie eine Firma. Oder er versucht es wenigstens, bis hin zum Selbstbetrug. Lachhaft bis an die Schmerzgrenze zeigt sich dies an der Rede, die Rikard an seiner eigenen Hochzeit hält. Man feiert in kleinem Rahmen, in der Familienwohnung in Kopenhagen; anwesend sind seine deutlich jüngere Braut, mit der er zwei kleine Kinder hat, seine beiden erwachsenen Töchter aus erster Ehe sowie der Freund seiner Lieblingstochter Ditte.

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Der Vater hält also eine Rede – und spricht eigentlich nur über Bakterien, Traditionspflege und all das, was ein gutes Brot, diese Essenz von Geschmackssinn und handwerklicher Tugend, ausmacht. Das Gelächter, die Seitenblicke und das gelegentliche Augenverdrehen zeigen, wie peinlich die Zuhörer die subtil markierten Besitzansprüche in Vaters Rede finden. Zugleich spürt man eine aufrichtige Wärme und Liebe, die die Familienmitglieder füreinander empfinden; am besten beim ausgelassenen Tanzen im Wohnzimmer.

Mit En familie reiht sich Pernille Fischer Christensen in die Tradition aufwühlender dänischer Familiendramen ein wie Tomas Vinterbergs Festen oder Susanne Biers Brothers und After the Wedding. Biers traumhafte Sicherheit im Schreiben und Inszenieren unsentimental realistischer Melodramen erreicht Fischer Christensen allerdings (noch) nicht ganz. Wie bei ihrer Kollegin bilden – quicklebendig gefilmte – Traditionsanlässe wie Hochzeit oder Beerdigung dramatische Kulminationspunkte; anders als bei Bier werden dabei keine Familiengeheimnisse ans Tageslicht befördert, um der Melodramatik zusätzlichen Schub zu verschaffen. Die Dramaturgie von En familie verläuft geradliniger: Kurz nachdem Ditte ein Angebot als Trendscout für eine New Yorker Galerie erhalten und deswegen sogar einen Schwangerschaftsabbruch auf sich genommen hat, um diesen Traumjob an der Seite ihres Geliebten antreten zu können, erfährt sie von der schweren Krebserkrankung ihres Vaters. Ditte entscheidet sich schweren Herzens fürs Bleiben, um ihren Vater unterstützen zu können, doch der Entschluss wird ihr durch die grosse Enttäuschung ihres Freundes sowie durch den Altersstarrsinn ihres Vaters schwergemacht, der seine Lieblingstochter mit Besitzansprüchen und Bevormundung konfrontiert.

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Dabei vergönnt uns Fischer Christensen kaum eine Verschnaufpause: Konsequent und erbarmungslos schreitet das Vater-Tochter-Drama voran; in der zweiten Filmhälfte, beim Niedergang des Patriarchen von einer markigen Persönlichkeit zum abgemagerten Greis, gibt es kaum mehr leichte Momente. Das macht aber nichts: Das Beste an Fischers Film sind gerade die konzentriert intimen Szenen wie am Totenbett, wo wenig gesprochen und vielsagend geschwiegen wird und keine Filmmusik vom Wesentlichen ablenkt. Dann, wenn durch eine sinnliche Intimität zwischen Kamera und Darstellern jene grosse Nähe entsteht und die Schauspieler so authentisch wirken, als sei alles spontan aus dem (besten) Moment heraus entstanden. Die Schwäche von En familie liegt wenn schon darin, dass Fischer noch zu wenig auf genau diese Stärke vertraut; das Skript ist stellenweise etwas überladen mit Themen (wie der Abtreibung oder der Schwesternbeziehung), die diese Konzentration aufs Wesentliche gerade wieder relativieren.

Umwerfend in ihrer tragischen Komik ist gewiss jene Szene, in der der Vater in Unterwäsche per Taxi aus dem Spital flieht, um seine eigene Familie als polternder Tyrann heimzusuchen. Jesper Christensen spielt den jähzornigen Narren in Todesangst mit raumgreifender Wucht: ein gefallener, nackter König. Auch Ditte ist mit Lene Maria Christensen gut besetzt; neben Jesper Christensen vermag die Schauspielerin, die in Dänemark vor allem als Komödiantin bekannt (und mit der Regisseurin nicht verwandt) ist, jedenfalls gut zu bestehen. Fischer Christensen betont denn auch, wie sehr sie die Arbeit mit den Schauspielern genoss, und dass alle für sie wichtigen Vorbilder – von John Cassavetes bis zu den Protagonisten der Nouvelle Vague – Autoren sind, die «in ihre Schauspieler verliebt waren». Dazu passt der visuelle Stil ihres Films, den Fischer als «Poesie des Unperfekten» charakterisiert. Mit Dogma-Ästhetik hat das allerdings wenig zu tun: Die Bildgestaltung wirkt bei aller Lebendigkeit kontrolliert und ausgewogen. Auch das ist inzwischen State of the art in Dänemark: Mit Dogma haben die meisten Filmemacher direkt nichts mehr zu schaffen, auch wenn sie von den Inspirationen der Bewegung immer noch zehren.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2011 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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