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Derniere fugue 03

La dernière fugue

Text: Oswald Iten / 02. Mär. 2011

Die nach Kanada ausgewanderte Genferin Léa Pool hat ein untrügliches Gespür für die Empfindungen und Innenwelten Jugendlicher an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Behutsam erzählt sie beispielsweise in Emporte-moi oder Maman est chez le coiffeur, wie vertraute Familienwelten temporär aus dem Lot geraten. Wenn sie sich jetzt in La dernière fugue mit dem an der Parkinsonschen Krankheit leidenden Anatole und dessen Ringen um einen menschenwürdigen Lebensabend auseinandersetzt, gelingt ihr dies erwartungsgemäss dort am besten, wo sie aus der Sicht von Anatoles adoleszentem Enkel Sam erzählt, der einen unverstellten Zugang zum Grossvater hat.

Während die letzten Verwandten zum bevorstehenden Weihnachtsessen eintreffen, schaut Sam mit den jüngeren Kindern vierzig Jahre alte Super8-Filme an, die einen lebensfrohen Anatole beim Klavierspielen zeigen. Als Gefangener seines eigenen Körpers kann Anatole mittlerweile kaum noch die Kindergartenaufgaben bewältigen, die ihm die Ergotherapeutin vorlegt, geschweige denn sich richtig artikulieren.

Ganz bei sich scheint er aber auch heute noch, wenn er im Nebenzimmer aufmerksam einer Bachfuge lauscht, die seinen Fingern rudimentäre Bewegungen entlockt. Doch bevor das Stück zu Ende ist, nimmt sein Sohn die Nadel von der Platte und holt ihn an den Tisch. Dort muss Anatole mitansehen, wie seine zahlreichen Kinder und Enkel sich über den Festschmaus hermachen, er aber weder Sauce noch Bordeaux bekommen soll. Derweil sprechen die Anwesenden in der dritten Person über ihn, als wäre er gar nicht da.

Im Verlauf des Essens zeigt sich, dass der von Jacques Godin kantig gespielte Anatole weit entfernt ist vom charmanten Typus des sterbenden Grossvaters, wie ihn Bruno Ganz zurzeit so erfolgreich verkörpert. Trotz umgekehrter Abhängigkeit schiesst er noch immer scharf gegen seine Kinder, was seine Tochter, die er wie alle seine Kinder nur mit der Berufsbezeichnung anspricht, zur Bemerkung veranlasst, neu sei nur die Krankheit, der Charakter habe sich nicht verändert.

Derniere fugue 02

Zwar diskutiert die ganze Verwandtschaft offen über die lebensverlängernden Ratschläge und Massnahmen der Ärzte, doch für die Wünsche des Vaters scheint sich niemand ernsthaft zu interessieren. Zu sehr haben sie früher unter ihm gelitten. Allmählich regt sich in André, dem kinderlosen ältesten Sohn, Widerstand gegen die Bevormundung des Vaters. Sein Versuch, diesem eine Freude zu machen, wird jedoch als verantwortungslos abgetan.

Dem von Aliocha Schneider einfühlsam verkörperten Sam gelingt es schliesslich mit einer vermeintlich taktlosen Bemerkung, seinen Onkel zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Grossvater zu bewegen. Auf einem nächtlichen Spaziergang der beiden stellt sich heraus, dass Sam, den wir bisher hauptsächlich als nachdenklichen Beobachter wahrgenommen haben, gewillt ist, seinen Worten Taten folgen zu lassen. Er hat es sich in den Kopf gesetzt, dem Grossvater zu helfen, das Leben noch einmal in vollen Zügen zu geniessen.

Dazu brauchen die beiden jedoch die Hilfe der Grossmutter, die sich lange im Hintergrund hält, dann aber die Dinge beim Namen nennt und sich gegen die Stigmatisierung als Opfer ihres Ehemannes wehrt. Zwar sei sie mittlerweile zur Mutter des eigenen Mannes geworden, doch sei er doch der Mensch, den sie auf der ganzen Welt am besten kenne. Andrée Lachapelles zurückhaltendes Spiel verleiht dieser starken, aber gleichzeitig verletzlichen Frau eine enorme Präsenz. Bezeichnenderweise ist es an ihr, die Angst vor dem Tod anzusprechen, mit der auch sie als gläubige Katholikin zu kämpfen hat.

Für André bedeutet die neue Aufgabe, dass er sich seinem Hass auf den Vater stellen muss. Im Gegensatz zum unvoreingenommenen Neffen ist sein Verhältnis zu Anatole durch ein in der Vergangenheit liegendes Ereignis nachhaltig belastet. Gemeinsam ist den Männern jedoch die Liebe zum Klavierspiel. Es sind denn auch die Noten zu einer Bach-Toccata, die in André eine bedrückende Kindheitserinnerung auslösen, welche der im Bett liegende Anatole scheinbar unbedacht mit «das war lustig» kommentiert, worauf André sinniert, dass man sich an die gleichen Dinge auf sehr unterschiedliche Weise erinnern könne.

Derniere fugue 05

Diese versprochene Mehrdeutigkeit löst der Film dann allerdings nicht ein, wenn das eigentliche traumatische Erlebnis schliesslich in Rückblenden ans Licht kommt und Andrés Erinnerung dadurch jenen objektiven Status der zuvor eingeführten Super8-Aufnahmen erhält. So grausam dieses Ereignis auch gewesen sein mag, als vollständige psychologische Erklärung für eine anfänglich komplex gezeichnete Vater-Sohn-Beziehung wirkt es dann doch zu banal.

Vielleicht packt Pool als Drehbuchmitautorin auch ganz einfach zu viele Themen und Figuren in die rund neunzig Minuten Laufzeit, so dass ihr die emotional befriedigende Auflösung nur dank inhaltlicher Vereinfachung gelingt. Waren es in früheren Filmen hauptsächlich die feinen Zwischentöne, die uns einen atmosphärischen Blick in die Welt ihrer Protagonisten ermöglichten, spielt Léa Pool hier auf allen Registern der emotionalen Klaviatur, ohne freilich die notwendige Portion Humor zu vergessen.

So verzeiht man ihr auch die eine oder andere effektvolle Überzeichnung und den musikalischen Teppich, der verhindert, dass uns ob der sich auftuenden Abgründe jemals wirklich kalt würde. Obwohl man sich gewünscht hätte, dass am Schluss nicht alles so rund aufgeht, wirken die aufgeworfenen Fragen noch nach, wenn das Papiertaschentuch schon lange entsorgt ist.

Derniere fugue 01

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2011 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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