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La petite chambre 02

La petite Chambre

Text: Pierre Lachat / 02. Mär. 2011

Da kommt nur Vereinzeltes drin vor, was sich um Leben und Tod drehen könnte: oder auch darum oder darauf rennen oder sich reimen wie in einem beliebigen Krimi oder Reisser. Die heftigen, überzeichneten Gesten, den melodramatischen Aufruhr und den rührseligen Jammer erspart sich La petite chambre fast ganz. Stattdessen handelt der Film von Leben und Tod, und zwar geschieht es aus dem einen heraus und im Schatten des andern; und damit sind auch Leiden und Geburt, Kindheit und Alter, Krise und Genesung, Abgang und Wiederkunft als Elemente angesprochen. Trotzdem wird nach keinem Tiefsinn gegründelt und auch nichts Weltumspannendes ausgelegt. Alles Philosophische bleibt vor der Tür.

Petit heisst es nachdrücklich, und das Wort «klein» im Titel verbindet sich fast von allein zum Beispiel mit der petite musique jenes Michel Soutter, der verhaltene Genfer Filme machte. Calvinistisch wurden sie auch schon genannt. Zudem war er ein Chansonnier, doch sang er nur selten zu einer kräftiger orchestrierten Begleitung als der selbstgeklampften Gitarre. Von einer «Kammer» ist sodann die Rede, was wiederum die chambre verte oder grüne Kammer anklingen lässt. Das Motiv stiftete François Truffaut 1978 einen denkwürdigen Stoff. Thema war der Totenkult eines professionellen Nachrufeschreibers. Zugleich gab La chambre verte dem Autor eine Vorahnung vom unabwendbar nahenden Ende. Als sein eigener Darsteller spielte er sein baldiges Ableben auch schon selber.

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Rose, auch Rosemonde

Stéphanie Chuat und Véronique Reymond sind Autorinnen der jüngsten Generation, doch steht ihnen die Überlieferung von der Region um den Lac Léman noch nahe genug: jene unkomplizierte und meist behutsame Art und Weise des Filmemachens, heisst das, die von 1960 an zwischen Genf und Lausanne Fuss gefasst hat, mit Schauplätzen, die bis in die Alpen und in den Jura reichen, und mit Exkursionen nach der halben Welt. Die erste grössere gemeinsameArbeit der beiden Filmemacherinnen war unlängst Buffo Buten & Howard, ein Porträt des Psychologen, Buchautors und Mimen, der als klassischer amerikanischer expat oder Rückwanderer so häufig in Genf wie in Paris und New York auftritt. Um ein amüsanter Clown zu sein, studiert Howard Buten das Verhalten von Autisten und gibt umgekehrt auf der Bühne, in der Nachfolge Grocks, den Hanswurst namens Buffo, um den Autismus besser zu verstehen, auch den eigenen und den von uns allen.

Rose heisst die Heldin von La petite chambre wohl nach der Rosemonde von La salamandre; und wie aus Charles mort ou vif desselben Alain Tanner übernommen wirkt der Vater-Sohn-Konflikt, der zwischen den greisen Edmond und seinen verständnislosen Nachkommen gerät. Sodann blitzen etliche Klassiker von Claude Chabrol wieder auf, dank des minimalistischen Spiels seines inzwischen fünfundachtzig Jahre alt gewordenen Leib-Schauspielers. Michel Bouquet scheint die kargen Dialogzeilen, die er in der Rolle des Edmond zu sprechen hat, aus dem Stand herzusagen. Indessen war die unerschütterliche Ruhe schon immer seine vornehmste Stärke.

Aus vielen Bezügen von solcher Art spinnt sich ein Stück régionalisme zusammen, wie es die Franzosen nennen. Damit ist frankophones Kino abseits der Metropole gemeint, wenn auch mit ein paar scheuen Seitenblicken nach Paris hin und la langue innig verpflichtet. Verwurzelt ist es in einem Hinterland ganz eigenen Charakters, das gewiss helvetisch anmuten wird, doch kaum wirklich eidgenössisch. Da führt die Leinwand wieder einmal plastisch vor Augen, was für eine schmale, aber satt geschichtete Sonderschnitte sich die hellwachen Romands wahrhaftig aus dem kontinentalen Kuchen der Kulturen heraustranchiert haben. In dieser Beziehung sind sie den Deutschschweizern, die’s mit dem analogen Prozess etwas leichter haben, kein bisschen unterlegen. In jedem Fall läuft am Genfersee alles lokale Filmemachen, selbst unbeabsichtigt, auf einen Akt der kollektiven Selbstbehauptung hinaus.

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Keine Mutter geworden

Leben und Tod ist gleichbedeutend mit Kommen und Gehen, und im Zusammenzug, der zwei Seiten ein und derselben Sache daraus macht, gerinnt der Ausdruck zum brutalen: Totgeburt! Noch ehe der erste Seufzer ergeht, heisst das, ist der letzte auch schon getan. Abermals eine Spur drastischer und klinischer nennen es die Angelsachsen DOA: dead on arrival. Rose spielt den Hergang keinesfalls etwa in seiner Jetztzeit inszeniert durch, sondern erzählt die Schlüsselszene aus einer schon etwas gewachsenen, aber noch ein wenig zu kurzen Distanz nach, und zwar der Kamera fast dokumentarisch stracks ins Auge und nahezu gerade vor sich hin. Dabei kann es aussehen, als setzte bei ihr eine Selbst-Therapie ein:
spontan, ohne dass die Heldin sie bewusst aufnähme. So war das damals, als ich ins Spital musste. Erst kommt die Regungslosigkeit in meinem Bauch, dann folgt die Stille. Plötzlich übereilt sich alles und stürzt binnen Tagen ab ins Kindergrab. Rasch geht zu Ende, was sich lange anbahnt.

Für den Kleinen hatte sie die petite chambre vorbereitet und will sie nun auf unbestimmte Zeit als Mahnmal beibehalten. Ganz in ihrem ursprünglichen Zustand soll die kleine Kammer an eine Kreatur erinnern, bei der sich die Reihenfolge von Ankunft und Weggang auf den Kopf gestellt hat, entgegen aller Konsequenz. Vergeblich beklagt ihr Mann die engen Verhältnisse in den ehelichen Räumen. Das unantastbare Zimmer möchte er wieder bewohnen wie einst, auch in der Hoffnung, ein solcher Schritt zurück ins alltägliche Mass werde seiner Frau aus ihrer traumatisierten Erstarrtheit heraushelfen.

Durch ein dummes Versehen stolpert Edmond ahnungslos in die Gedenkstätte hinein; ungeschickt reisst er dabei ein paar Dinge zu Boden. Da bewegt sich sichtlich ein Aussenseiter, der kaum noch lange zu leben hat oder wünscht, schon auf der Spur auch seines eigenen Erlöschens, ähnlich wie seinerzeit Truffaut es in La chambre verte tat. Und erst jetzt, nach der Entheiligung, kann die Mutter, die keine hat werden dürfen, ihre Seelenarbeit gezielt aufnehmen. Um die Wunde vernarben zu lassen, wird es gelten, das Unabänderliche zu verkraften. Nichts anderes ist denkbar.

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Entweder oder

Gleichsam mit Hilfe eines Exorzismus wollte Rose den grossen Schlaf aus der kleinen Kammer vertreiben. Da bricht er ein, und damit bricht er auch den Bann. Inzwischen läuft Edmonds verbleibende Zeit aus, noch ehe er den Bogen seines eigenen Daseins vollenden kann. Rasch geht zu Ende, was
sich lange anbahnt. Mit andern Worten, es gibt nur mort ou vif, wie Alain Tanner schon wusste. Entweder ist einer tot, oder er ist lebendig; etwas Drittes ist nicht gegeben. Demnach kann keine einzige Kreatur jemals mort-né im strengen Sinn dieser genau betrachtet paradoxen Wortfügung sein. Denn das hiesse: schon tot und doch noch geboren; geboren und doch schon tot.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2011 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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