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Nostalgia de la luz 02

Nostalgia de la luz

Text: Frank Arnold / 02. Mär. 2011

Es ist ein wahrhaft magischer Moment, wenn die Zahnräder des gigantischen Teleskops ineinandergreifen und sich die schweren Teile wie von Geisterhand bewegen – als gäbe es keine Menschen mehr auf der Erde, sondern nur noch Maschinen, die sich selber regulieren. Kleine Partikel wirbeln durch die Luft und lassen die Szenerie oszillieren zwischen Poesie und Science Fiction (man erinnert sich an die Sporen aus dem All, die in Invasion of The Body Snatchers das Unheil über die Menschheit bringen).

Science und Fiction: der Anfang scheint einen Film über Astronomie zu verheissen, die Erzählerstimme spricht von der Faszination, die die Astronomie auf den Regisseur schon als Kind ausübte. Als Zuschauer, der beim Stichwort Chile zuerst an den blutigen Militärputsch gegen die gewählte linke Regierung von Salvador Allende im Jahr 1973 denkt, ist man irritiert. Man fragt sich, ob das eine mit dem anderen zusammenhänge, zumal der Regisseur dieses Films ja kein Unbekannter ist. Patricio Guzmán darf als der wichtigste Chronist von Demokratie und Diktatur in Chile gelten: vor allem mit seinem dreiteiligen Dokumentarfilmepos La batalla de chile (1975–1979), das im Stil des Direct Cinema gehalten war, aber auch dem dokumentarischen Porträt Salvador allende (2004). Nostalgia de la luz, der Ende letzten Jahres mit dem Europäischen Filmpreis als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet wurde, schlägt einen anderen Tonfall an, ist ein poetischer Essayfilm, der gleichwohl die politische Vergangenheit des Landes nicht ausblendet, sie vielmehr in einen grösseren Zusammenhang stellt und dadurch einen neuen Blickwinkel ermöglicht. Es geht um das Erinnern, die Spurensuche in der Vergangenheit, wobei der Film den Eindruck vermittelt, dass es die Astronomen dabei paradoxerweise leichter haben als diejenigen, die die jüngste Vergangenheit der eigenen Geschichte ans Licht bringen wollen.

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Astronomen und Archäologen: der Blick der einen richtet sich nach oben gen Himmel, der der anderen nach unten auf und unter den Boden – das Tor zur Vergangenheit suchen sie beide. Wir erfahren, dass Guzmán seine Leidenschaft für die Astronomie mit vielen anderen Chilenen teilt. Das ist kein Zufall, denn der Himmel über der Atakama-Wüste ist derartig klar, dass dort immer wieder neue, riesige Teleskope errichtet werden, um den Sternenhimmel zu erforschen.

Die Atakama-Wüste könnte auch die location für einen Science-Fiction-Film sein, der auf einem fernen Planeten spielt. Aber Nostalgia de la luz holt den Zuschauer immer wieder zurück in die Gegenwart und auf den Boden der neueren chilenischen Geschichte. Denn in der Atakama-Wüste finden sich für den, der danach sucht, zahlreiche Spuren der Militärdiktatur, die Überreste von hier eingerichteten Konzentrationslagern ebenso wie die Knochenreste von Menschen, die hier ermordet wurden. So steht das Meditative der Landschaftsaufnahmen neben der Anklage der Frauen, die hier unbeirrt immer noch nach den Knochen ihrer Angehörigen suchen, um von ihnen in Würde Abschied nehmen zu können. Einer der erschütterndsten Momente des Films ist jener, in dem eine von ihnen sich und die anderen Frauen als die «Leprakranken» von Chile bezeichnet. Sie sind lebendige Mahnmale dafür, dass die Vergangenheit nicht vergessen werden darf. Genau das streben Teile der chilenischen Gesellschaft heute an.

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Nicht nur da darf sich der deutsche Zuschauer an die eigene Geschichte erinnert fühlen – es ist schon überraschend, wie viele Berührungspunkte es gibt, vom Teleskop, das der Regisseur als kleiner Junge geschenkt bekam und das von Zeiss aus Deutschland stammte, über Victor, einen der Protagonisten des Films, der als Kind von Emigranten in Deutschland (der DDR) geboren wurde. Dafür durfte Erich Honecker dann in Chile sterben. Und natürlich darf der Zuschauer ebenfalls an die Sekte «Colonia Dignidad» denken, deren unrühmliche Rolle in der Militärdiktatur erst später bekannt wurde. Nostalgia de la luz ist bei allen poetischen Momenten, die mit dem Blick ins All zusammenhängen, in erster Linie ein Film über die Kraft der Erinnerung. Dass Diktaturen diese Kraft nicht unterschätzen sollten, beweist hier eindringlich jener KZ-Häftling, der später aus seinem Gedächtnis die Räume im KZ rekonstruierte und sie zeichnerisch für die Nachwelt festhielt.

Im Vertrauen auf die Kraft der Erinnerung wurzelt der Optimismus des Filmemachers Patricio Guzmán, wie er im Gespräch ausdrückte: «Ich glaube, unter der jetzigen rechten Regierung wird die Erinnerungsarbeit wieder erstarken. Ich weiss natürlich nicht, ob der Staat weiterhin die kulturelle Arbeit unterstützen wird, aber den Leuten, die sich mit dem Erinnern befassen, wird ein Impuls vermittelt. Und es gibt viele junge Geschichtslehrer und Geschichtsforscher, die sich mit dem beschäftigen, was in den offiziellen Geschichtsbüchern nicht vorkommt. Denn die Schulbücher erklären weder umfassend die Militärdiktatur noch den Staatsstreich. Während der Astronom Millionen von Jahren zurückblicken kann, hat ein Schulkind überhaupt nicht die Möglichkeit, etwas über die letzten dreissig Jahre zu erfahren.»

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2011 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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