Filmbulletin Print Logo
Tuesday after christmas 04

Tuesday, after Christmas / Marti, dupa Craciun

«Es wäre nicht so schön gewesen, hätten wir uns vor zehn Jahren kennengelernt.» Dieser Satz ist mehr als ein Liebesbekenntnis. Er bedeutet nicht nur, dass man für die wahre Liebe ein gewisses Alter erreicht haben muss, sondern auch, dass man den anderen noch nie so geliebt hat wie in diesem Augenblick.

Text: Michael Pekler / 13. Apr. 2011

«Es wäre nicht so schön gewesen, hätten wir uns vor zehn Jahren kennengelernt.» Dieser Satz ist mehr als ein Liebesbekenntnis, denn er bedeutet nicht nur, dass man für die wahre Liebe ein gewisses Alter erreicht haben muss. Er bedeutet auch, dass man den anderen noch nie so geliebt hat wie in diesem Augenblick.

Vor zehn Jahren allerdings wäre Raluca noch keine zwanzig gewesen und Paul noch nicht verheiratet. Nun sind sie ein Liebespaar, doch obwohl Paul ihre Beziehung vor seiner Frau Adriana geheim hält, haftet den Treffen der beiden nichts Heimliches an. Zu Beginn sieht man Paul und Raluca minutenlang nebeneinander im Bett liegen, nimmt teil an ihrer Vertrautheit und an ihrem Vertrauen zueinander. Und auch im weiteren Verlauf des Films, der sich immer stärker zu einem Dreiecksverhältnis zuspitzt, hat man nie das Gefühl, dass diese Beziehung etwas Verbotenes oder Unmoralisches wäre.

Das ist die erste grosse Qualität von Radu Munteans Tuesday, after Christmas: Er enthält sich einer moralischen Bewertung. Nicht weil eine solche nicht möglich, sondern weil es zu einfach wäre, über diese drei Charaktere ein Urteil zu fällen. Verletzt das Liebespaar die betrogene Ehefrau, weil Paul ihr seit mehreren Monaten nicht die Wahrheit sagt? Ja, weil es nicht soweit hätte kommen dürfen. Nein, weil alle drei in jedem Moment den für sie einzig richtigen Schritt setzen.

In Hinblick auf das rumänische Kino der vergangenen Jahre, das gerne an einem postrevolutionären Realismus festgemacht wird, nimmt Tuesday, after Christmas auf den ersten Blick eine Sonderstellung ein. Die Mühen des Alltags und die beengenden ökonomischen Verhältnisse – dargestellt in Arbeiten wie Der Tod des Herrn Lacarescu (Moartea domnului Lazarescu) von Cristi Puiu oder zuletzt Politist, adjectiv von Corneliu Poromboiu – weichen der Bestandsaufnahme einer bürgerlichen Welt, in der es jeder zu etwas gebracht hat: Paul arbeitet im Finanzsektor, Adriana als Juristin, und selbst die junge Raluca leitet als Zahnärztin erfolgreich eine eigene Praxis. Ein geplanter Winterurlaub in den Alpen stellt für Paul und Adriana kein finanzielles Problem dar, ebenso wenig eine teure Zahnregulierung für die Tochter und die silbergraue Limousine vor dem Haus.

Tuesday after christmas 06

So scheint vor allem die Generation der Mittvierziger endgültig von den politischen Verhältnissen im Land losgelöst und damit von jenen sozialen Umbrüchen, von denen sie in den vergangenen Jahren selbst am stärksten profitierte. Dennoch wäre die Schlussfolgerung, dass Tuesday, after Christmas genauso gut in Paris oder Zürich spielen könnte, nicht richtig: Die Auseinandersetzung ist bloss nicht mehr die mit einer öffentlichen Vergangenheit, sondern mit einer privaten. Es ist eine neue Form von Ungewissheit, die über den Charakteren schwebt: Während für die Familie zehn Jahre auf dem Prüfstand stehen, hätten Paul und Raluca sich vor zehn Jahren gar nicht kennengelernt – und es wäre schon deshalb nicht «so schön» gewesen.

Auf narrativer Ebene läuft Tuesday, after Christmas auf Pauls Geständnis hinaus und auf Adrianas Antwort: «Du bist die grösste Enttäuschung in meinem Leben.» Diesen entscheidenden Moment und seinen Ausgang an dieser Stelle zu erwähnen, sei deshalb erlaubt, weil auch Radu Muntean von Anfang an kein Hehl daraus macht, wie sich Paul entscheiden wird. Vielmehr interessiert sich Tuesday, after Christmas – beginnend bei seinem Titel, der schon auf ein nahendes Ultimatum verweist – für die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt für die unausweichliche Konfrontation sowie für das unterschiedliche Empfinden von Dauer der drei Beteiligten.

Wenn etwa Paul und Raluca miteinander glücklich sind, scheinen sie alle Zeit der Welt zu haben; wenn Paul und Adriana in der darauf folgenden Szene für ihre zehnjährige Tochter in einem Sportgeschäft ein Snowboard aussuchen – Weihnachten steht vor der Tür –, ist diese Zeit von einer Notwendigkeit des Alltags bestimmt. Hier wie dort lässt Muntean seinen Charakteren genügend Zeit und scheint unvoreingenommen zu beobachten, wie sie diese nützen. Und so passiert es, dass eine Liebeserklärung und erotische Verspieltheiten nicht wichtiger sind als die Wahl der richtigen Farbe eines Sportgeräts oder die Grösse eines Weihnachtsbaums.

Tuesday after christmas 10

Für alle verstreicht die Zeit unterschiedlich schnell, und so kommt auch Radu Muntean nicht umhin, wiederholt darauf zu verweisen: In einer zentralen Szene – zugleich eine der vielen den Film strukturierenden Plansequenzen – entschliesst sich die noch unwissende Adriana, Paul und ihre Tochter in die Zahnarztpraxis von Raluca zu begleiten. Doch während die junge Frau mit der Situation scheinbar souverän umgeht, wird für Paul jede Sekunde zu einer kleinen Ewigkeit. Einmal schenkt er Raluca eine viel zu grosse Armbanduhr, aber das fällt nicht weiter auf; ein anderes Mal wird darüber diskutiert, wie oft jemand schon The Hours gesehen habe. Und unerträglich wird das Warten auf den richtigen Moment, in dem er seiner Tochter die Trennung mitteilen muss. Indem man jedoch genau das nicht zu sehen bekommt – ein letztes Mal soll Weihnachten gemeinsam gefeiert werden –, überträgt Tuesday, after Christmas diesen Zustand der Hilflosigkeit direkt auf uns.

So verlängert Muntean das Gefühl des Verlusts in grandioser Weise über das Ende der Erzählung hinaus. Am Weihnachtsabend versammelt sich die Familie bei den Grosseltern, und Paul und Adriana wissen, dass dies das letzte Mal gewesen sein wird. Doch das “blinde” Verstehen funktioniert noch immer: Während im Vorzimmer ein Kinderlied gesungen wird, legt Paul die Geschenke, darunter das rosa Snowboard, unter den Baum. Und wie selbstverständlich reicht ihm Adriana hinterrücks noch ein Paket, das er wortlos nimmt und zu den anderen legt. Zehn Jahre sind nicht so schnell vergessen, und sie werden es auch am Dienstag nach Weihnachten nicht sein.

Tuesday after christmas 02

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2011 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

Weitere Empfehlungen

Kino

24. Sep. 2014

Sleepless In New York

Wenn triebhafte Grossstädter unter Schlafstörungen leiden, hat dies oftmals romantische Gründe. Sie sind frisch verliebt, die Dopaminproduktion läuft auf Hochtouren. Die wenigsten wissen, dass dieses “Glückshormon” auch in rauen Mengen ausgeschüttet wird, wenn uns Liebeskummer den Schlaf raubt.

Kino

28. Okt. 2021

Und morgen seid ihr tot

Nach einer falschen Abzweigung sitzt ein Schweizer Paar fast neun Monate in Geiselhaft der Taliban. Michael Steiner inszeniert einmal mehr nach wahrer Vorlage ein über weite Strecken packendes Unterhaltungskino.