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Almanya 04

Almanya

Migration als Komödie, in der Zuwanderer und Gastvolk mit ihren Urteilen und Vorurteilen auf die Schippe genommen werden, das hat Seltenheitswert. Und es ist ein kleiner Lichtblick, wenn West und Ost im Kino zusammensitzen und sich (zumindest vordergründig) über ihre jeweiligen Eigenheiten amüsieren können.

Text: Erwin Schaar / 18. Mai 2011

Nach fast vierzigjährigem Aufenthalt in Deutschland haben Fatma und Hüseyin Yilmaz einen deutschen Pass beantragt. Wenn Patriarch Hüseyin in einem nächtlichen Albtraum erlebt, wie ein ständig Papiere abstempelnder Beamter ihn fragt «Verpflichten Sie sich, als baldiger deutscher Staatsbürger die deutsche Kultur als Leitkultur zu übernehmen?», scheint seine Ehefrau damit keine Schwierigkeiten zu haben, weil sie sowieso nach ihren Vorstellungen lebt und diese ominöse Kultur für sie weder mit «Leit» noch mit «Leid» verbunden ist.

Migration als Komödie, in der Zuwanderer und Gastvolk mit ihren Urteilen und Vorurteilen auf die Schippe genommen werden, das hat Seltenheitswert. Darf doch an die beginnenden siebziger Jahre erinnert werden, als die Verhältnisse in der Schweiz emotionale und politische Auseinandersetzungen um Alvaro Bizzarris Lo stagionale, der die Notlage italienischer Saisonarbeiter anprangerte, zur Folge hatten. Oder in Deutschland an 40 m2 Deutschland von Tevfik Baser (1986), der die asoziale Behandlung von türkischen Gastarbeiterfrauen beklagte. Auch wenn die Probleme der Zuwanderung nicht geringer geworden sind, mag es doch ein kleiner Lichtblick sein, dass West und Ost im Kino zusammensitzen und sich (zumindest vordergründig) über ihre jeweiligen Eigenheiten amüsieren können.

Die türkischstämmigen Schwestern Nesrin und Yasemin Samdereli, erstere Drehbuchautorin, die andere studierte Filmemacherin, 1979 und 1973 schon in Deutschland geboren, haben sich auch ihrer Kindheit im Drehbuch erinnert, das sie erst nach fünfzig Fassungen zufriedenstellte. Da mögen viele Wenn und Aber bedacht worden sein, in einer von Thilo Sarrazins Buch «Deutschland schafft sich ab» aufgeheizten Stimmung der von Vorurteilen besetzten Klientel nicht zusätzlichen Stoff zu liefern. Es bleiben also die Bilder und die Handlung in den Dimensionen, die Eingesessene und Zuwanderer bei Stimmung halten und den Fingerdeutern keine Chance geben.

Almanya 03

Geschichte wird auf verschiedenen zeitlichen Ebenen erzählt, und kongenial wird in der Sprache verhandelt, die sich zum jeweiligen Stand des Verweilens in Heimat und Fremde anbietet. Ein schöner Einfall, in Anlehnung an die Kunstsprache Chaplins in The Great Dictator die Deutschen gegenüber den Einwanderern der ersten Generation ein Grammelot sprechen zu lassen, weil eben Deutsch für die Ohren neu zugewanderter Türken wie Mattenenglisch klingt.

Der kleine Cerk (aus der dritten Generation), er fühlt sich weder den Türken noch den Deutschen so richtig zugehörig, möchte die Geschichte seiner Familie erfahren, und seine wesentlich ältere Cousine erzählt ihm von den Versuchen des Grossvaters in Anatolien, Fatma für sich zu gewinnen, von der wirtschaftlichen Not und der Auswanderung. Die Rückblenden beleuchten die Missverständnisse, die die neue Kultur bringt: Die Deutschen verehren einen toten Mann am Kreuz, dessen Fleisch und Blut sie verzehren, oder sie schmücken Bäume zu einem Fest wie Weihnachten. Den Samdereli-Schwestern gelingt es aber, etwaigen humorigen Einlassungen auf den Islam zu entgehen.

Das Drehbuch lässt Grossvater Hüseyin in der alten Heimat ein Haus kaufen, was die Familie zum Aufbruch nach Anatolien versammelt. Auf der Fahrt erfährt Cenk die weitere Geschichte. Aber sie endet mit einem traurigen Ereignis, das aber doch wieder den Zusammenhalt aller Mitglieder bestätigt, und Cenk darf ein Vermächtnis erfüllen und vor der Bundeskanzlerin als Vertreter des tausendundersten Einwanderers damals Ende der sechziger Jahre kindlich humane Worte vortragen, denn die Deutschen «riefen Arbeitskräfte, aber es kamen Menschen» (Max Frisch).

Almanya 01

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2011 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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