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The Hunter

Wieder ist es Winter. Oder wahrscheinlich sollte man angesichts der symbolischen Bedeutung, die diese Jahreszeit im Kino von Rafi Pitts innehat, eher schreiben: noch immer ist Winter.

Text: Stefan Volk / 18. Mai 2011

Wieder ist es Winter. Oder wahrscheinlich sollte man angesichts der symbolischen Bedeutung, die diese Jahreszeit im Kino von Rafi Pitts innehat, eher schreiben: noch immer ist Winter. Nachdem Pitts in seinem letzten Spielfilm It’s Winter (Zemestan, 2005) die sprichwörtliche Erstarrung der iranischen Gesellschaft am Beispiel eines kleinen Dorfes in fast quälend ruhigen Bildern in Szene gesetzt hat, wechselt er mit §the hunter zwar den Schauplatz vom Lande in die Millionenstadt Teheran, nicht jedoch den Erzählrhythmus. Abermals diagnostiziert die Montage in langanhaltenden Totalen einen beklemmenden Stillstand. Bröckelnde Fassaden, schmucklose Werkhallen, triste Trabantenstädte rückt Mohammad Davudis Kamera ins Bild.

Verloren hinter einem von Tausenden Fenstern steht Ali, die vom Regisseur selbst verkörperte Hauptfigur, und blickt nach draussen ins betonfarbene Nichts. Zurück aus dem Gefängnis wünscht er sich ein geregeltes Leben mit seiner Frau und seiner sechsjährigen Tochter. In der Fabrik, in der er arbeitet, wird er aufgrund seiner Vorstrafe aber lediglich in der Nachtschicht eingesetzt. Seine Familie sieht er nur selten. Die Dunkelheit, die Alis Alltag bestimmt, legt sich wie ein Schleier über den Film. Auch in der heimischen Wohnung hockt Ali im diffusen Licht auf dem Sofa, noch immer isoliert. Bilder familiären Glücks bleiben rar. Einmal trägt Ali seine kleine Tochter auf den Schultern, zu dritt besuchen sie einen Freizeitpark. Sie lächeln, lachen, aber wirklich ausgelassen wirken sie selbst in solch harmonischen Momenten nicht. Eine zähe, unterschwellige Schwermut verlangsamt alle Bewegungen. Träge, wie von einer unsichtbaren Last abgebremst, verrinnt die Zeit. Gesprochen wird nur das Nötigste. Noch in der Familie lebt man so aneinander vorbei, stumm, sprach- und hoffnungslos. Auch die Fluchten in die Natur bringen Ali keine Befreiung. Regelmässig fährt er mit seinem Jagdgewehr in die winterlichen Wälder. Doch auch hier zwischen den kahlen laublosen Bäumen zielt er meist ins Leere, und der Nachhall des Schusses unterbricht die schwere Stille nur für Momente.

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Als Ali wieder einmal von einem seiner Jagdausflüge nach Hause kommt, findet er die Wohnung leer vor. Durch das offene Fenster dringen von Weitem Sirenengeräusche. Rufe von Demonstranten, die das Ende der Diktatur fordern, sind zu hören. Irgendwann in der Nacht klingelt das Telefon. Auf der Polizeistation erfährt Ali, dass seine Frau tot ist. Sie sei bei einem Schusswechsel zwischen der Polizei und bewaffneten Unruhestiftern zwischen die Fronten geraten und von einer verirrten Kugel getroffen worden, behauptet der zuständige Polizist. Ein Kind sei aber nicht bei ihr gewesen. Verzweifelt sucht Ali die Stadt daraufhin nach seiner Tochter ab. Vergeblich. Nur kurze Zeit später muss er auch ihren Leichnam identifizieren. Pitts handelt diese dramatischen Ereignisse in wenigen lakonischen Einstellungen ab. Was wirklich geschah, wird weder visuell noch verbal aufgelöst. Mit gezielten Leerstellen entzieht Pitts seinem Genrestoff die Genrewirkung. Dort, wo im Actionfilm ausgeschmückt wird, setzt in The Hunter die Schere an. Statt mit wuchtigem Sound das Geschehen voranzutreiben, entwindet ihm Pitts in aller Stille das Pathos. Statt offener politischer Konfrontation wählt der Autorenregisseur einen sublimeren, poetischen, zeitloseren Zugang.

Bezeichnenderweise wurden die narrativen Lücken in der bisherigen Rezeption des Filmes dennoch stets mit gesellschaftspolitischen Bezügen gefüllt. So stellen die meisten Besprechungen zum Film gar nicht in Frage, dass Alis Frau während einer Demonstration von der Polizei erschossen wurde. Abschliessend geklärt wird das im Film selbst allerdings nicht. Dennoch macht auch Ali die Polizei als Schuldigen für den Tod seiner Familie verantwortlich. Wer oder was aber ist “die Polizei”? Auch diese unausgesprochene Frage wirft The Hunter auf. Eine abstrakte Institution oder die Summe ihrer Angehörigen? Umgekehrt: wieviel Polizei steckt im einzelnen Polizisten? Oder in Alis Fall: wieviel Schuld?

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Ali beantwortet das aus dem Bauch heraus, indem er sich rächt. Er schultert sein Gewehr, bezieht auf einem Hügel über den Highways von Teheran Stellung, zielt auf ein vorbeifahrendes Polizeiauto und erschiesst zwei Polizisten. Auf der Flucht, die ihn zurück in die weiten, einsamen Winterwälder führt, wird er von zwei anderen Polizisten gestellt. Während der eine Ali am liebsten sofort erschiessen würde, gesteht ihm der andere, dass er zum Polizeidienst eingezogen wurde, den ganzen Apparat aber verabscheut. Die drei verirren sich im Wald, und im strömenden Regen driftet der Film fast so etwas wie einem “Showdown” entgegen.

The Hunter ist ein bitteres, illusionsloses Rachedrama; das Porträt eines verzweifelten, gebrochenen Mannes und einer festgefahrenen, leblosen Gesellschaft. Es ist vor allem aber auch ein grossartiges Stück Kino: wunderschön und zutiefst melancholisch. Pitts ebenso sprödes wie lyrisches Meisterwerk changiert zwischen Neo- und Surrealismus, Zeitgeschichte und Zeitlosigkeit. Die Figuren, Ali inklusive, erhalten kaum persönliche Züge, bleiben stets in vager Distanz. Wie entseelt wabern sie durch gespensterhafte Kulissen. Doch so sehr Pitts den Film entschleunigt und den Spannungsbogen immer wieder unterläuft, lässt sich die dynamische Genrestruktur des Plots doch nicht wegleugnen. Es brodelt unterm Eis. Und das darf man ruhig spüren.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2011 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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