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Emotifs anonymes 06

Les émotifs anonymes

«Gleich und gleich gesellt sich gern», sagt der Volksmund. Tatsächlich möchte man meinen, dass, wo verwandte Seelen aufeinandertreffen, auch die Herzen locker zueinanderfinden. Das mag in 99,9 Prozent aller Fälle so sein. Nicht jedoch in Les émotifs anonymes von Jean-Pierre Améris.

Text: Irene Genhart / 18. Mai 2011

«Gleich und gleich gesellt sich gern», sagt der Volksmund. Tatsächlich möchte man meinen, dass, wo verwandte Seelen aufeinandertreffen, auch die Herzen locker zueinanderfinden. Das mag in 99,9 Prozent aller Fälle so sein. Nicht jedoch in Les émotifs anonymes von Jean-Pierre Améris. Dessen Protagonisten sind nämlich hypersensibel und menschenscheu, sie leiden fachmännisch ausgedrückt an einer Soziophobie. Was nicht heisst, dass ihnen das Interesse an den Mitmenschen abgeht. Im Gegenteil: Theoretisch wissen sie sehr genau, wie das geht – jemanden kennenlernen, Sex haben, Lieben und eine Beziehung leben. Praktisch allerdings haben sie Angst vor seelischer und körperlicher Nähe, werden unsicher und geraten in Panik, wenn sie angesprochen werden und sich ihre Gefühle zu regen beginnen.

Den Alltag wissen Angélique Delange und Jean-René van der Hugde, wie sie hier heissen, mittels Tricks – Ritualen, Eselsleitern, Routinen – ganz gut zu bewältigen. Und mit der Hilfe von Psychiater, Therapiegruppe und Freunden haben sie auch ungewöhnliche Situationen meist im Griff. Doch dann sucht Jean-René für seine Schokoladenfabrik eine(n) neue(n) Mitarbeiter(in), und Angélique stellt sich bei ihm vor. Schon beim Vorstellungsgespräch wird klar – spätestens als die Rede auf die Schokolade kommt und das Fachsimpeln beginnt –, dass die beiden füreinander geschaffen sind. Überaus leidenschaftlich werden Bitterkeitsgrade und Konsistenz diskutiert. In der köstlichsten Szene des Films degustieren sie ein Sortiment neuer Choco-Kreationen und schwärmen dabei in solch seliger Beredtheit von schokoladenen Geschmackdetails, dass es die pure Wonne ist, ihnen dabei zuschauen zu können! (Les émotifs anonymes ist nicht zuletzt auch ein Film, der in der Nachfolge von Chocolat von Lasse Hallström, Charlie and The Chocolate Factory von Tim Burton und Como agua para chocolate von Alfonso Arau der bittersüssen Delikatesse seine Reverenz erweist.)

Emotifs anonymes 05

Eigentlich ist Angélique eine der besten Chocolatières der Welt, ihre Schokoladen-Kreationen sind ein wahrer Traum. Doch das weiss Jean-René lange Zeit nicht. Was daran liegt, dass Angélique derart schüchtern und sensibel ist, dass sie, auf ihre Schokolademacherkunst angesprochen, im glimpflichsten Fall davonläuft und im schlimmsten in Ohnmacht fällt. Ergo meidet sie solche Situationen und weicht beim Anstellungsgespräch geschickt aus, als die Rede auf Ausbildung und Karriere kommt. Engagiert wird sie trotzdem, und zwar als Vertreterin. Im Umgang mit Kunden schlägt sie sich wider Erwarten wacker. Sie trällert, tanzt und singt sich – Jacques Demy hätte seine Freude daran – ihre Ängste von der Seele, bevor sie an Türen klopft und hausiert. Dass sie keine Bestellungen heimbringt, liegt nicht an ihr, sondern an Jean-Renés Schokolade, die – O-Ton Angélique – «nicht modern», sondern im besten Fall «ehrlich» und «solide» ist. Jean-Renés Fabrik aber steht kurz vor dem Bankrott. Das ist für das traditionsreiche Unternehmen eine Schande und wäre nicht nötig, denn schliesslich könnte Angélique …

Dass die Sache mit der Schokolade gut kommt, versteht sich selbstredend. Denn so ganz gegen den Strich gestriegelt ist Améris Komödie nicht, obwohl sie mit dem wohl glücklichsten unhappy end der Filmgeschichte aufhört. Dass das Ende so herzerquickend hübsch verquast ist, hängt damit zusammen, dass wo zwei sich nicht trauen, sie auch dem (gemeinsamen) Glück im Wege stehen. Es ist ein ungemein abenteuerlicher und für das Publikum wahrlich lustiger Spiessrutenlauf, den Angélique und Jean-René absolvieren – auf einer Liste von umstandskrämerischen First-Kiss, First-Date, First-Sex, First-Love, First-etcetera-Movies gehört Les émotifs anonymes ganz an die Spitze. Oder haben Sie je einen besseren Grund gehört, jemanden zu küssen, als dass man nicht mehr weiss, wie man des Betroffenen Hand loslassen soll? Und haben Sie es je geschafft, innert einer halben Minute eine Beziehung mit einem Kuss zu starten und diese gleich wieder mit einem zweiten Kuss zu beenden?

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Jean-Pierre Améris und den Darstellern gelingt es, die beiden Figuren trotz ihrer schrägen Eigenarten und Marotten durchaus liebenswert und charmant erscheinen zu lassen. Das ist nicht ganz so schwierig im Falle von Angélique, die sich als im Prinzip spontaner und lebenslustiger Mensch zwar in eine unmögliche Situation nach der anderen manövriert, sich aber mit entwaffnendem Lächeln auch immer wieder daraus zu retten vermag. Isabelle Carré verströmt im immer gleichen grünen Mäntelchen mit grossen Augen und ab und zu verblüffender Eloquenz Liebreiz und zarte Zerbrechlichkeit. Schwieriger für die Mitmenschen ist der Umgang mit Jean-René, von dem es zu Anfang heisst, er wirke auf den ersten Blick furchtbar streng und mürrisch und auf den zweiten ebenso. Doch Benoît Poelvoorde, den man derzeit auch in Dany Boons rien à déclarer als Zollbeamten auf der Leinwand antreffen kann, meistert die Rolle des kauzigen Patrons, der täglich beim Psychiater sitzt und dem zur Erreichung des Glücks die Angestellten schliesslich tatkräftig unter die Arme greifen, überaus souverän. Er führt ein einmalig prächtiges onomatopoetisches Geräusch-Repertoire vor, damit Jean-René, dem es öfters die Sprache verschlägt, wenigstens lautmalerisch kommunizieren kann. Allein das zeugt von feinster Schauspielkunst.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2011 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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