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Vrais mensonges 05

De vrais mensonges

Pierre Salvadoris Komödie ist der Film, den man seit Audrey Tautous fabelhaftem Aufstieg als Amélie zu sehen erwartet und befürchtet: In De vrais mensonges spielt Tautou nämlich eine Anti-Amélie”.

Text: Irene Genhart / 27. Juli 2011

Ziemlich genau zehn Jahre ist es her, dass Jean-Pierre Jeunet mit Amélie Poulain die nebst Betty Boop bisher entzückendste Frauenfigur der Filmgeschichte vorstellte. Amélie hat eine schwierige Kindheit, aseptische Eltern, einen depressiven Goldfisch, aber auch eine blühende Phantasie, eine märchenhaft versch(r)obene Weltsicht, Charme und ein riesiges Herz. Und weil Jeunet alles richtig machte, was man bei einem Film richtig machen kann, stiegen Le fabuleux destin d’amélie poulain und seine Hauptdarstellerin, die damals fünfundzwanzigjährige Audrey Tautou, kometenhaft auf. Bis sie vier Jahre später in Un long dimanche de fiançailles, wiederum unter Jeunet, die unendlich treue Mathilde spielte, stand Tautou unmittelbar im Bann Amélies. In der Folge versucht sie, sich von dieser Rolle zu lösen: als Agentin in The Da Vinci Code (Ron Howard, 2006), als Betrügerin in Hors de prix (Pierre Salvadori, 2006), als Putzfrau in Eensemble, c’est tout (Claude Berri, 2007), als Modedesignerin in Coco avant chanel (Anne Fontaine, 2009). Sie spielt gut und solide, unter Fontaines Regie gar erstaunlich “authentisch”.

Gut und solide spielt sie nun auch in De vrais mensonges. In der Tat ist Pierre Salvadoris Komödie der Film, den man seit Tautous fabelhaftem Aufstieg zu sehen erwartet und befürchtet: In De vrais mensonges spielt Tautou nämlich eine “Anti-Amélie”. Emilie betreibt in Sète einen Schönheitssalon. Sie ist eine gute Geschäftsfrau, Chefin, Friseuse, und eigentlich will sie immer nur das Beste. Aber Emilie ist unter einem anderen Stern als Amélie geboren. Derweil Amélie, was immer sie tut, traumtänzerisch sicher auf den Füssen landet, Glück und Entzücken verbreitet, stösst Emilie, von Natur aus ungeduldig und unsicher, ihre Mitmenschen das eine ums andere Mal vor den Kopf.

Vrais mensonges 03

Da nützen die besten Absichten und tollsten Ideen nichts: Emilie bleibt mit einem schlechten Gewissen und / oder einem Frust zurück. Die Umgebung lässt Emilie ihre Unzulänglichkeit durchaus spüren: Die Kundin, der Emilie wider deren Willen, doch vermeintlich zu deren Besseren die Fransen kürzt, verlässt empört den Salon. Und ihre Mutter Maddy (souverän: Nathalie Baye), von Emilie mit einer Kreuzfahrt beschenkt, gibt ihr unmissverständlich zu verstehen, dass sie, von ihrem Gatten verlassen, lieber allein zu Hause Trübsal blase als sich auf Geheiss anderer vergnüge.

Nun aber ist Emilie nicht nur ein Trampel. Sie ist auch hübsch und charmant, und zumindest ihr Angestellter Jean (charmant: Ami Bouajila) glüht vor Liebe zu seiner Chefin. Jean aber ist genauso schüchtern und unsicher wie Emilie. Oder aber, wie Emilie es formuliert: verlogen. Statt Emilie offen seine Liebe zu gestehen, schreibt er ihr anonym einen Liebesbrief. Womit die Lüge in De vrais mensonges Einzug hält und sich schneeballeffektartig ausbreitet. Denn Emilie wirft besagten Brief vorerst zwar in den Papierkorb. Doch später fischt sie ihn wieder heraus, tippt ihn ab und schickt ihn ebenfalls anonym an ihre Mutter. Der Effekt, den sie damit erzielt, ist phänomenal: Endlich lacht Maddy wieder. Doch einmal in Liebe erblüht, verlangt Maddy nach weiteren Liebesbeweisen. Und Emilie, die ihre Mutter gern glücklich weiss, sieht sich gezwungen, diese zu liefern und verlässt sich dabei auf die Hilfe ihres Angestellten Jean.

Und dann gibt es in De vrais mensonges noch die Geschichte von Jean, der in Wahrheit kein einfacher Bursche ist, sondern ein hochsensibler, handwerklich geschickter, zudem studierter Mann, der früher für die UNESCO arbeitete: Am liebsten vor die Tür stellen würde sie ihn, als Emilie davon erfährt.

Vrais mensonges 01

Wirklich spannend ist die Story von De vrais mensonges nicht. Aber Salvadori erzählt virtuos, sein Film ist kurzweilig, die Inszenierung präzis. Gilles Henrys Kamera ist geschmeidig, der Humor perlend, die Musik voller Ohrwürmer. Das Trio Tautou, Baye und Bouajila schauspielert gut. Vor allem Nathalie Baye, die auch schon mal verzückt im Nachthemd durch Sète läuft und als anfänglich verbiesterte Mittfünfzigerin zuletzt doch lächelnd ins Leben zurückfindet, vermag in ihrer schnurrigen Fragilität zu gefallen. Doch der grosse Wurf ist Salvadori mit De vrais mensonges, wie schon mit seinem letzten Film hors de prix, nicht gelungen. Zu stark bleibt sein Film dem Genrehaften verpflichtet. Zu sehr stellt der Regisseur seine Figuren, statt ihnen zu vertrauen und in die Tiefen ihrer Seelen zu schauen, in den Dienst der Story. Der oberflächlichen Flüchtigkeit, aber auch dem Zitat scheint De vrais mensonges somit verschrieben; tatsächlich wirkt vieles darin wie schon gesehen und weckt unmittelbar Erinnerungen an Venus beauté (institut) von Tonie Marshall (1999), Caramel von Nadine Labakis (2007) oder aber auch, gerade weil er von der bewundernden Liebe eines Mannes zu einer Friseuse berichtet, Patrice Lecontes Le mari de la coiffeuse (1990). Sète als Schauplatz ist an sich ein Traum, der Frisiersalon mit den Buntglasfenstern ein wunderbar weiblicher Raum; leider aber ist auch Salvadoris Umgang mit Lokalitäten von einer irritierenden Nonchalance. So erreicht Salvadori mit diesem seiner Protagonistin charakterlich nicht unähnlichen Film, indem er das Richtige beabsichtigt, aber das Falsche tut, tatsächlich sein Ziel: Mit dieser Emilie, die man als Zuschauer wegen ihrer Dussligkeit öfters nur zu gern zausen würde, wird Audrey Tautou die Amélie endgültig ausgetrieben.

Vrais mensonges 02

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/2011 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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