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A Separation – Nader and Simin

A Separation, bei den diesjährigen Filmfestspielen von Berlin mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet, ist ein zutiefst menschliches Drama, in dem sich die Spannungen zwischen den Figuren, bedingt durch ein sorgfältig konzipiertes Drehbuch, auf beklemmende Weise auf den Zuschauer übertragen.

Text: Michael Ranze / 27. Juli 2011

Ein Ehepaar aus Teheran vor dem Scheidungsrichter. Simin will den Iran verlassen, um ihrer heranwachsenden Tochter Termeh im Ausland bessere Möglichkeiten zu eröffnen. Nader hingegen, Bankangestellter von Beruf und somit der iranischen Mittelschicht zuzurechnen, will keinesfalls emigrieren, zumal er sich um seinen altersdementen Vater kümmern muss. Darum hat Simin die Scheidung eingereicht. Nun streiten sie sich – in einer langen, halbnahen Einstellung, die gleichzeitig ihre Gesichter zeigt – vor dem Richter, die Argumente gehen hin und her. Ein wenig unglaubwürdig wirkt diese Szene, von der Logik des Anlasses her, aber auch emotional. Denn dass sich Nader und Simin nicht mehr lieben, will man bei der Leidenschaft, mit der sie die Klingen kreuzen, gar nicht glauben. Und doch funktioniert die Szene als Katalysator für die nun folgenden Konflikte, die Asghar Farhadi ebenso komplex wie anspruchsvoll miteinander verknüpft.

Der Richter verwehrt die Scheidung – mit schwerwiegenden Folgen: Simin zieht zurück zu ihren Eltern, Termeh bleibt bei Nader. Doch wer soll sich nun um den kranken Vater kümmern? Nader engagiert für die Pflege Razieh, eine junge Mutter, deren schwarzer Tschador auf ihre Frömmigkeit verweist. Sie wohnt in der Vorstadt und muss jeden Morgen in aller Herrgottsfrühe aufstehen, um pünktlich um acht, kurz bevor Nader das Haus verlässt, ihren Dienst anzutreten. Dummerweise hat sie ihrem arbeitslosen, hoch verschuldeten Mann Hodjat nichts von ihrem neuen Job erzählt. Das Haus eines fremden Mannes zu betreten, hätte er ihr schlicht und einfach verboten. Doch es kommt noch schlimmer: Mit der Pflege des verwirrten Vaters ist Razieh schon bald überfordert.

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Als er sich einmal in die Hose macht, bittet sie erst telefonisch einen Geistlichen um die Erlaubnis, den alten Mann waschen zu dürfen. Eines Tages bindet sie ihn einfach ans Bett und verlässt die Wohnung, um Besorgungen zu machen. Nader ist entsetzt, als er überraschend zurückkehrt. Er verliert völlig die Fassung, bezichtigt Razieh auch noch des Diebstahls und stösst sie gewaltsam, ohne Lohn, aus der Wohnung.

Und nun führt Farhadi eine weitere Wendung ein, die die Komplexität der Handlung noch einmal verschärft und dabei fast schon als Traktat über Realität und ihre unterschiedliche Wahrnehmung fungiert. Razieh war nämlich schwanger und hat bei dem handfesten Streit mit anschliessendem Sturz ihr ungeborenes Kind verloren. Hat Nader von der Schwangerschaft gewusst? Hätte er sie, trotz des Tschadors, nicht bemerken müssen? Sagt Razieh die Wahrheit? Wenn ja, würde Nader des Totschlags angeklagt. Nicht einmal als Zuschauer ist man mehr sicher über die Fakten, über das Gesehene und Gehörte. Mit einem Mal sind alle Beteiligten in einem Knoten aus Lügen, Scham, Unnachgiebigkeit, Verletzungen, Drohungen, Forderungen und Beschuldigungen gefangen, der durch die Fallstricke des iranischen Rechtssystems noch enger wird. Jede Figur könnte im Recht sein. Oder auch nicht.

A Separation – Nader and Simin wurde bei den diesjährigen Filmfestspielen von Berlin mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet, alle Darsteller wurden für ihre Leistung mit dem Silbernen Bären bedacht – ein bewusstes Bekenntnis zum iranischen Kino, eine bewusste Anerkennung seiner Bedeutung, besonders vor dem Hintergrund, dass Jury-Mitglied Jafar Panahi nicht nach Berlin ausreisen durfte. Einige Filmjournalisten hätten sich darum einen Film gewünscht, der kritischer mit dem iranischen Regime und seinen Repräsentanten, von Richtern über Polizisten bis zu Lehrern, umgegangen wäre. Repräsentanten, die – so der Tenor – zu verständnisvoll, zu hilfsbereit, zu aufrecht geschildert werden.

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Doch abgesehen davon, dass ein regimekritischer Film schon in der Drehbuchphase nicht die Zensur hätte passieren können, geht es hier um etwas anderes. A Separation ist ein zutiefst menschliches Drama, in dem sich die Spannungen zwischen den Figuren, bedingt durch ein sorgfältig konzipiertes Drehbuch, auf beklemmende Weise auf den Zuschauer übertragen. Besonders der Konflikt zwischen Nader und Razieh berührt zahlreiche Probleme der heutigen iranischen Gesellschaft, vom Zusammenleben der Geschlechter, das hier vor allem als ein Gegeneinander erscheint, bis zum Gefälle der sozialen Klassen, das die Kontrahenten durch Wohnort, Bildung, Arbeit und Einkommen noch weiter voneinander entfernt. Eine wichtige Rolle spielt auch der Einfluss des Islam auf den Alltag, besonders bei Razieh, die durch strikte Befolgung religiöser Grundsätze zusätzlich gehemmt wird. Farhadi folgt dabei seinen Figuren und beobachtet sie, fast beiläufig: Amtsstuben, Wohnungen, Schulen, Strassenverkehr, Geschäfte. Wie bei einem Mosaik setzt sich so das Bild unterschiedlicher, grossstädtischer Lebensentwürfe zusammen, die gleichwohl eines gemeinsam haben: Hier geht es um Menschen, Frauen vor allem, die sich in einer unfreien Gesellschaft ein wenig Freiraum erkämpfen. Geschlossene oder sich schliessende Türen, die den Zugang verwehren und Lebenschancen verweigern, sind darum ein stetes Motiv des Films.

In der zweiten Hälfte nimmt der Film fast schon die Züge einer griechischen Tragödie an. Nader zwingt seine Tochter, für ihn zu lügen, und stürzt sie so in einen Loyalitätskonflikt, der nicht nur ihre Integrität infrage stellt, sondern auch ihr moralisches Wertesystem. Ein Vertrauensverlust – so bestürzend, dass man sich der dramatischen Wucht dieses Films nicht mehr entziehen kann.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/2011 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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