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Halt auf freier strecke 01

Halt auf freier Strecke

Die Warnung gleich vorweg: dieser hemmungslos authentische Film über das Sterben ist kaum auszuhalten. Einerseits spricht das natürlich für die herausragende Qualität von Dresens Drama, das einen von der ersten Sekunde an schmerzhaft packt und danach nur gelegentlich den Griff ein wenig lockert, einen aber nie mehr loslässt. Andererseits drängt sich die Frage auf, wieso man sich das antun sollte. Eine Antwort darauf gibt der Film erst ganz am Ende, und sie fällt anders – unaufgeregter, selbstverständlicher – aus, als man das bislang aus dem Kino kannte.

Text: Stefan Volk / 11. Jan. 2012

Die Warnung gleich vorweg: dieser hemmungslos authentische Film über das Sterben ist kaum auszuhalten. Einerseits spricht das natürlich für die herausragende Qualität von Dresens Drama, das einen von der ersten Sekunde an schmerzhaft packt und danach nur gelegentlich den Griff ein wenig lockert, einen aber nie mehr loslässt. Andererseits drängt sich die Frage auf, wieso man sich das antun sollte. Eine Antwort darauf gibt der Film erst ganz am Ende, und sie fällt anders – unaufgeregter, selbstverständlicher – aus, als man das bislang aus dem Kino kannte.

Überhaupt unterscheidet sich Halt auf freier Strecke grundlegend von anderen Sterbefilmen. Andreas Dresen nähert sich dem unbequemen Sujet weitaus nüchterner und zugleich radikaler an, als es üblich ist. Ähnlich wie bei Wolke 9, in dem er von Sex und Liebe im Alter erzählte, entspringt seine Radikalität weniger dem Thema selbst als vielmehr dem unverstellten – aber nie indiskreten – Umgang damit. Verglichen mit Melodramen wie Love Story von Arthur Hiller oder Terms of Endearment von James L. Brooks verstört, was Dresen der Wirklichkeit nicht hinzufügt. Ohne einen gefühligen Score und ohne lange, ergreifende Reden verabschiedet er seinen Alltagshelden aus dem Leben.

Nicht dass das deshalb weniger traurig wäre. Es ist schlichtweg zum Heulen, aber es sind keine klassischen Kinotränen, die einem das Sterben des Familienvaters Frank in die Augen treibt. Bereits schwer vom Tod gezeichnet, versammelt der an einem Gehirntumor erkrankte Mittvierziger an Heiligabend noch einmal Frau und Kinder an seinem Bett. In einem klaren Moment möchte er ein paar letzte Worte an seine Lieben richten. «Das Leben ist», fängt er an, aber er bringt den Satz nicht mehr zu Ende, sein Gehirn versagt ihm diesen letzten Dienst. Das hat nichts von tragischer Grösse und Wohlfühlpathos. Es ist kein Titanic-Tod, der hier gestorben wird.

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Gewiss gibt es auch andere Filme, wie etwa Isabel Coixets My Life Without Me, die sich an die Darstellung des ganz normalen, banalen, unfassbaren Sterbens herantrauen. Aber was Halt auf freier Strecke so aussergewöhnlich macht, ist, dass darin das Wissen um den nahenden Tod keine kathartische oder erhellende Wirkung entfacht. Natürlich ist nichts mehr wie es war, als Frank erfährt, dass er nur noch zwei, drei Monate zu leben hat. Dennoch markiert die Diagnose keinen Wendepunkt in seinem Leben. Frank ordnet es nicht neu, bricht nicht zu neuen Ufern auf. Die vereinzelten Gedanken und Erinnerungen, die er in Form eines Video-Tagebuches in sein iPhone spricht, wirken eher unbeholfen, bleiben fragmentarisch. Das Sterben macht ihn weder weiser noch tapferer. «Ich will nicht sterben», bricht es so verzweifelt aus ihm heraus, dass sein achtjähriger Sohn ihn tröstend in die Arme nehmen muss. In Franks Sterben versteckt sich keine Botschaft an das Leben, er kann seine Krankheit nicht als Chance begreifen, wie eine wohlmeinende Therapeutin ihm rät.

Wie Dresen den plötzlichen und viel zu frühen Tod seines Protagonisten interpretiert, verdeutlicht bereits die Einstiegssequenz, mit der die Zuschauer jäh in das Geschehen hineingestossen werden. Im Sprechzimmer erklärt der behandelnde Arzt Frank und seiner Frau Simone den Befund. Der Tumor in Franks Kopf sei bösartig und schon so gross, dass er sich nicht mehr entfernen lasse. Chemotherapie und Bestrahlung könnten den Verlauf der Krankheit allenfalls verlangsamen. Die Lebenserwartung betrage «in solchen Fällen» nicht mehr als ein paar Monate. Dann werde er also den zehnten Geburtstag seines Sohnes nicht mehr erleben, stellt Frank eher fest, als dass er es fragt. Und der Arzt sagt nichts dazu, weil es nichts dazu zu sagen gibt. Man hört, wenn er sich in medizinisches Fachvokabular flüchtet, wie unangenehm ihm dieses Gespräch ist, aber auch wie alltäglich ihm solche Situationen geworden sind. Man hört es aus dem Off, weil die Kamera quälend lange und unbewegt auf Frank und seiner Frau verharrt; auch dann noch, als das Telefon klingelt und der Arzt mit einem Kollegen organisatorische Abläufe bespricht, anstatt sich um seinen Patienten zu kümmern. «Wir wissen nicht», sagt der Arzt hinterher dann noch, «wie so eine Krankheit entsteht. Der eine bekommt einen Herzinfarkt, der andere dies. Das ist, wenn man so will, Schicksal.» Wofür sich Dresen mit Halt auf freier Strecke offensichtlich ausspricht: dieses Schicksal anzunehmen, den Tod nicht aus dem Leben auszusperren, auch nicht aus den eigenen vier Wänden.

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Nicht drastische Bilder, sondern überzeugende Darsteller sind es, die Halt auf freier Strecke so stimmig und glaubhaft wirken lassen. Milan Peschel und Steffi Kühnert sind in den beiden Hauptrollen absolute Glücksgriffe; einfach atemberaubend gut, ohne zu überspielen. Bei einigen Nebendarstellern, etwa dem behandelnden Arzt im Krankenhaus oder der Palliativärztin, die Simone bei der häuslichen Betreuung ihres Mannes unterstützt, hilft es, dass sie mit den Rollen, die sie verkörpern, aus ihrem eigenen Leben vertraut sind. Petra Anwar ist ebenfalls Palliativärztin, und Uwe Träger hat als Chefarzt schon ganz ähnliche Gespräche geführt wie jenes, mit dem Dresens Film beginnt.

Es zeichnet Dresen als Schauspielregisseur aus, dass er es mit seinem Improvisationsstil versteht, Laiendarstellern den nötigen Freiraum zu eröffnen, um eine unverfälschte und unbefangene Ausstrahlung zu entwickeln. Ein wenig schade ist nur, dass er Franks Kindern, die ebenfalls grossartig gespielt werden, an einigen Stellen so klischeehaft-unsentimentale Sätze in den Mund legt wie: «Wenn du tot bist, kann ich dann dein iPhone haben?» Richtig schade ist, dass der Film mit einem dieser Sätze endet. Es ist klar, worauf Dresen mit der lakonischen Schlusspointe abzielt, die hier im Detail nicht verraten werden soll: das Leben geht weiter, und es ist gut, wenn der Tod ganz selbstverständlich dazugehört. Aber die Art und Weise, wie Dresen dieses Signal am Ende platziert, wirkt aufgesetzt, unecht. Ganz ähnlich ist das mit den surreal-grotesken Szenen, in denen Franks Tumor in menschlicher Gestalt erscheint und zum Beispiel in der «Harald Schmidt»-Show auftritt. Leichte Momente zum Atemholen kann ein derart schwergewichtiges Drama zweifellos gut vertragen. Das dachte sich wohl auch Dresen. Zurecht. Das Problem ist nur, man merkt diesen Szenen an, dass er sich das dachte. Unterm Strich tun diese kleinen artifiziellen Stolperstellen dem Film jedoch keinen Abbruch. Halt auf freier Strecke bleibt ein überwältigendes, brutales, zärtliches, rücksichtslos menschliches Werk; mutig, bewegend, grausam und versöhnlich.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2012 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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