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Lore 01

Lore

Je näher der Zusammenbruch heranrückt, um so beharrlicher wird der Endsieg beschworen. Verzweiflung ist Gewissheit, Niederlage ist Triumph. Das eine wie das andere Paradox hätte George Orwell in «1984» einfügen können. Lore erzählt, was tausendfach geschehen ist und sich nie wird ungeschehen machen lassen, doch ohne ein weiteres Mal nach einer schimärischen Gerechtigkeit zu verlangen.

Text: Pierre Lachat / 31. Okt. 2012

Je näher der Zusammenbruch heranrückt, um so beharrlicher wird der Endsieg beschworen. Verzweiflung ist Gewissheit, Niederlage ist Triumph. Das eine wie das andere Paradox hätte George Orwell in «1984» einfügen können. Absolute Macht will gerade auch den Sinn der Wörter nach jeweils aktuellem Bedarf umkrempeln. Jenem visionären Roman fehlte nur eine Voraussicht: auf die Entfernung aus Position und Dasein, die früher oder später jedem Übergrossmächtigen blüht. Macht ist Ohnmacht, wissen wir inzwischen und krempeln damit munter selber um, allerdings nach der umgekehrten Richtung. Also hat vielleicht doch zu gelten, mit einem Schuss Ironie: keine Macht für niemand!

«Gelt Mutti, der Endsieg kommt schon noch?» Zu Beginn des Jahres 1945 gibt sich Deutschland seiner Destination so sicher wie nie zuvor. Die Kinder reden’s den Erwachsenen nach, wie gelernt: die Vorsehung ist unfehlbar, der Führer wird es richten. Doch sehen sich Vati und Mutti bereits von Hintergedanken bedrängt, und es bleibt kaum Zeit zu fragen: läuft da etwas dem Plan zuwider; könnte es sein, dass wir etwas falsch gemacht haben? Sich für alle Fälle in Sicherheit bringen, heisst es nun, die Kinder zu den Grosseltern spedieren: Spuren verwischen, Dokumente beseitigen. Auf den Endsieg gilt es eisern zu warten, wie denn anders, aber lieber etwas weiter weg von der Schusslinie. Für Vorkehrungen ist es nie zu früh; unversehens müssen Lore und ihre Geschwister selber schauen, wie sie von Bayern aus dorthin gelangen, wo sie vielleicht noch erwartet werden.

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Und dann, mitten drin in der Unrast, folgt die Nachricht: unser Führer ist tot, die Kapitulation steht vor der Tür. Verlust statt siegreich? Der halbwüchsigen Heldin obliegt es nun, die jüngeren Geschwister quer durch die Weiten zu geleiten, ohne bis ins Letzte zu wissen, wohin die Odyssee gehen soll und auf was für einer Route das Ziel oben im Norden zu erreichen ist. Die Reise, versteht sich, gerät zur Besichtigung dessen, was übrig bleibt von den drastisch verkürzten tausend Jahren, samt der Frage, was aus dem stattlichen Rest geworden ist. Indessen führt der Weg, wohlweislich und anders als erwartet, um die Städte herum, die in Schutt und Asche liegen; dort sind die Besatzungstruppen eingezogen und richten, so wird berichtet, Verheerungen an.

Hier ist kein Bleiben

Es bleibt einzig, quer durchs Hinterland zu ziehen: über die Felder, durch die Wälder, an Dörfern und Höfen vorbei und, wo’s geht, über die Brücken oder durch die Flüsse hindurch. Ob echt oder gefälscht, Papiere können nützlich sein, aber auch gefährlich; kein Mensch weiss Bescheid. Draussen sind die Spuren der Kämpfe zwar dünner gestreut, aber ebenso sprechend wie in den Zentren: verwesende Leichen, abgebrannte oder zerfallende Häuser, vernachlässigtes und verendetes Vieh. Es wird gestohlen, getötet und Selbstmord verübt. Epidemien wüten. Die Menschen hausen wie die Tiere. Niemand scheint mehr wirklich ansässig; jedermann wirkt, als wäre er auf der Flucht: in gegenläufigen Richtungen, je nach den widersprüchlichen Gerüchten.

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Die hervorkriechenden Überlebenden wissen nichts oder nur Falsches von den einmarschierten Amerikanern, Russen, Briten, Franzosen, von den versprengten Polen oder davongekommenen Juden, die unerwartet, fast gespenstisch auftauchen und wieder verschwinden. Mit einer Mischung aus kindlicher Vertrauensseligkeit und improvisiert angeeigneter Umsicht, vor allem aber mit viel animalischem Spürsinn schlägt sich Lore von Gegend zu Gegend, vorbei an Hilfsbereiten, Hilflosen und Hinterhältigen, und schleppt ihre widerstrebenden Schutzbefohlenen hinter sich her, was mitunter ans Unmögliche grenzt.

In den unablässig wechselnden Gesichtern der knapp minderjährigen Saskia Rosendahl, die noch in nichts, weder innerlich noch äusserlich, geformt und gefestigt ist, spiegelt sich das Zufällige, Missverständliche, Flüchtige der Begegnungen und Situationen. Fast ohne Ausnahme münden sie darin, dass nur eines noch zu raten ist: nichts wie weitergehen, hier ist kein Bleiben. Eine vergleichbare Wirkung erzeugt die anfänglich verwirrende, wie von einem Reporter geschulterte Wackelkamera; ihre Unruhe kehrt mehr und mehr das physisch wie psychisch Zerfetzte, rissene, schlagene, rüttete der Regionen und der Gestalten hervor: sowohl bei denen, die das Land suchend durchstreifen, wie bei den andern, die es einst aufgebaut haben.

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Deutsches, allzu Deutsches

Noch fragt keiner nach einem Deutschland, das sich neu zu besinnen wüsste; bis auf Weiteres geht die Kunde um, es werde nie wieder ein solches geben. Die feindlichen Besatzer, heisst es, gedächten die erbeuteten Territorien unter sich aufzuteilen, und zwar für immer. Unmittelbar ist an kein Aufräumen zu denken. Erst Jahre danach wird Lore und ihresgleichen das «Ramma damma» zufallen und damit die Rekonstruktion des Landes unter andern Voraussetzungen.

Längst hat die Geschichte ihre Urteile über die Kollektivverbrechen der Weltkriege gefällt und Abertausende laufen lassen, denen ein Klatsch mit dem Holzlineal auf die Finger gebührt hätte. Damit ist das klägliche Ungenügen der Nachgeschichte angesichts monumentaler Missetaten hinlänglich belegt. Die Epoche des Aufrechnens ist spätestens mit dem Millennium abgelaufen: wie viele Millionen habt ihr, wie viele haben wir hingemetzelt? Und ob es eine sakrosankte Kriminalität geben soll, egal wann, die berechtigt wäre, mittels eigener Massaker schlimmere zu verhüten, lässt sich kaum länger diskutieren.

Lore erzählt, was tausendfach geschehen ist und sich nie wird ungeschehen machen lassen, doch ohne ein weiteres Mal nach einer schimärischen Gerechtigkeit zu verlangen. Herkommen und Schicksal der Deutschen sind gewiss das Thema; bloss ist der Stoff so gefasst, wie sie ihn selber ohne Zorn und Eifer darzustellen ausserstande wären. Zu schwer drückt die Zerknirschung weiter auf die Gemüter, auch wo sie glauben, die Gnade der späten Geburt empfangen zu haben. Da braucht es eine Vorlage wie «The Dark Room», den Roman einer Engländerin, Rachel Seiffert; und siehe da, eine australische Regisseurin bringt es fertig, so viel Deutsches, allzu Deutsches gemessen auf die Leinwand zu bringen: zweifellos auch, weil Cate Shortland der Schuldgefühle und der Zuweisungszwänge entledigt ist; zu wissen, wer’s gewesen sein soll, hat noch nie geholfen, das Gewicht des Begangenen zu mindern oder neues Unheil abzuwenden.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 7/2012 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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