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Sagrada – El misteri de la creació

Angesichts von Stefan Haupts neuem Film bringt man die Geschichte vom Turmbau zu Babel nicht aus dem Kopf. Man kann sich des Gedankens nicht erwehren, dass sich auf einer Baustelle im heutigen Barcelona das Gegenteil der biblischen Szene abspielt, bauen da doch Menschen, die aus allen Ecken der Welt kommen und die unterschiedlichsten Sprachen sprechen, zusammen ein riesiges Gotteshaus.

Text: Irene Genhart / 31. Okt. 2012

Angesichts von Stefan Haupts neuem Film bringt man die Geschichte vom Turmbau zu Babel nicht aus dem Kopf. Man kann sich des Gedankens nicht erwehren, dass sich auf einer Baustelle im heutigen Barcelona das Gegenteil der biblischen Szene abspielt, bauen da doch Menschen, die aus allen Ecken der Welt kommen und die unterschiedlichsten Sprachen sprechen, zusammen ein riesiges Gotteshaus. Am 19. März 1882 wurde in Barcelona der Grundstein für den «Temple Expiatori de la Sagrada Família» gelegt. Innerhalb eines Jahres allerdings überwarfen sich Architekt und Bauherren, und man übertrug die Leitung des Baus dem einunddreissigjährigen Antoni Gaudí, der bis zu seinem Tod 1926 daran arbeitete. Sein Schüler Domènech Sugranyes führte den Bau weiter, bis 1936 Anarchisten Gaudís Atelier und damit einen grossen Teil der Pläne und Modelle zerstörten. 1954 nahm man die Bauarbeiten wieder auf. 1976 wurden die ersten vier Türme der Passionsfassade fertig. Am 7. November 2010 weihte Papst Benedikt XVI den weitgehend fertiggestellten Innenraum der Kirche. 2026, zu Gaudis hundertstem Todestag, schätzt die heutige Bauleitung, soll die Sagrada Familia fertig sein.

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Mitten in einer Phase, in der jährlich gegen drei Millionen Besucher mit ihrem Eintrittsgeld die Finanzierung des Baus sichern und modernste Techniken und Maschinen ein bisher nie dagewesenes Bautempo erlauben – auf der stellenweise sich schwindelerregend in den Himmel schraubenden Baustelle entstehen gleichzeitig Türme, Fassaden und Innenräume – hat sich Stefan Haupt der Sagrada Família angenommen. Als «Biographie eines Bauwerks» versteht er seinen Film. Beleuchtet dessen Entstehungsgeschichte und fächert diese in die Gegenwart zunehmend mosaikartig auf. Er lauscht Anekdoten und Erzählungen, lässt sich Pläne, Modelle, Computersimulationen erklären, schaut Glaser, Gipser, Modellbauer, Fenstermaler über die Schulter. Immer wieder bricht die von Patrick Lindenmaier geführte Kamera auf, wandert durch das wundersame Gebäude, schwingt sich auf und schwebt über die Baustelle, wo die Kathedrale entsteht, deren Kirchturm mit 170 Metern dereinst der höchste der Welt sein soll. Es ist bei Gott kein einig Volk, das da gemeinsam am Werken ist, im Gegenteil. Bunt perlen Sprachen, Dialekte und Idiome durcheinander. Und “Konfessionen”: Hat, um ein einziges Beispiel zu nennen, der japanische Bildhauer Etsuro Sotoo, um sich Gaudí, seinen Vorstellungen und Ideen nahezufühlen, vom Buddhismus zum Katholizismus gewechselt, so stellt sein Kollege aus Katalanien, der mit der Passionsfassade beschäftigte Agnostiker Josep Subirach, entschieden in Abrede, dass man Christ sein muss, um die Sagrada Família mitzugestalten.

Sagrada – El misteri de la creació ermöglicht dem Zuschauer – informationsreich und dicht – einen einmalig nahen Blick auf die Geheimnisse eines der faszinierendsten Gebäude der Welt. Patrick Lindenmaiers agile Kamera verleiht Haupts Film eine schwebende Leichtigkeit, Johann Sebastian Bachs h-Moll-Messe, dirigiert von Jordi Savall, verpasst ihm einen Hauch mystischer Erdung. Getragen von der Neugierde seines Regisseurs und dessen aus der Kindheit stammenden Faszination an sakralen Gebäuden ist Sagrada – El misteri de la creació eine weit über die Grenzen eines Architekturfilms herausführende Hommage an die schöpferische Kraft der Menschen und ihre Fähigkeit, gemeinsam Grosses zu erreichen.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 7/2012 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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