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Tabu 01

Tabu

Mit den Mitteln einer Ästhetik, die im Verschwinden begriffen ist, erzählt Miguel Gomes von einer Gesellschaft, deren Glanz erloschen ist. Tabu ist gewissermassen ein Double Feature mit Prolog. Der Auftakt stimmt den Zuschauer darauf ein, dass ihm in diesem Film alles Mögliche widerfahren kann.

Text: Gerhard Midding / 31. Okt. 2012

Als das Berliner Kino «Arsenal» den portugiesischen Regisseur vor zwei Jahren mit einer Retrospektive vorstellte, wurde das Programm um eine Carte Blanche ergänzt. Zu diesem Zeitpunkt war das Werk von Miguel Gomes zwar bereits aufsehenerregend, aber noch sehr überschaubar (heute hat sich das nicht wesentlich verändert); gerade einmal zwei Lang und eine Handvoll Kurzfilme hatte er seit 1999 gedreht. Durch die Carte Blanche wurde die Filmreihe indes nicht viel länger. Einen einzigen Film wählte er aus: Murnaus Tabu.

Das war vom Filmemacher gewiss auch als Geste cinephiler Höflichkeit gedacht, als Reverenz an einen Regisseur, der das Weltkino massgeblich prägte und dessen Karriere in Berlin ihre erste grosse Blüte erlebte. Heute stellt sich Gomes’ Entscheidung als ein vorausschauender Rückblick dar. Wahrscheinlich war sein neuer Film damals schon längst in Planung, für den Murnaus Tabu nicht nur bei der Titelsuche Pate gestanden hat. 1931 war er schon ein Anachronismus, ein spätes Aufbäumen der Stummfilmästhetik gegen den Siegeszug des Tonfilms. Auch Gomes’ Tabu fällt aus der Zeit. Er ist nicht nur in Schwarzweiss sowie im klassischen Filmformat von 1:1,37 gedreht und verzichtet in seinem zweiten Teil auf Dialoge. Der Regisseur und sein bewährter Kameramann Rui Poças haben sich überdies dafür entschieden, noch einmal auf Filmmaterial zu drehen, auf 16- und auf 35-mm.

Tabu 03

Das ist ein triftiges, auch widerständiges Programm für einen Film über Zeit und Erinnerung, der das Motiv des Abschieds vielfältig anklingen lässt: Mit den Mitteln einer Ästhetik, die im Verschwinden begriffen ist, erzählt er von einer Gesellschaft, deren Glanz erloschen ist. Tabu ist gewissermassen ein Double Feature mit Prolog. Der Auftakt stimmt den Zuschauer darauf ein, dass ihm in diesem Film alles Mögliche widerfahren kann. Er handelt von einem unglücklich verliebten Afrika-Forscher, der von einem Krokodil verspeist wird, das darob seinerseits der Melancholie anheimfällt. Dieser Prolog mündet in den ersten Teil des Films, der mit «Verlorenes Paradies» überschrieben ist. Darin macht sich im Lissabon der Gegenwart die aufopferungsvolle Pilar Sorgen um ihre greise Nachbarin Aurora (die diesen Namen zweifelsohne auch wegen Murnaus Sunrise trägt). Ihr Geisteszustand verwirrt sich immer mehr, sie wird von merkwürdigen Träumen heimgesucht und verjubelt ihre Rente regelmässig im Casino. Ihre treue kapverdische Haushälterin Santa (Sie merken schon, wie gesprächig die Namen in diesem Film sind!) verdächtigt sie, eine Voodoo-Zauberin zu sein. Gemeinsam versuchen die Freundinnen, der alten Dame ihren letzten Wunsch zu erfüllen: Vor ihrem Tod möchte sie noch einmal einen gewissen Gian Luca sehen. Pilar macht ihn tatsächlich in einem Altersheim ausfindig. Seine Erzählung liegt als Off-Kommentar über dem stummen zweiten Teil, der fünfzig Jahre zurückblendet und in dem Paradies spielt, das der erste für verloren erklärte. Damals hatte die frisch verheiratete Aurora eine Farm in Afrika, die am Fuss des erfundenen Mount Tabu lag. Mit dem Weltenbummler und Frauenhelden Gian Luca hatte sie eine Affäre, die in der Enklave portugiesischer Plantagenbesitzer im Mozambique der ausgehenden Kolonialzeit einen kleinen Skandal hervorrief.

Gian Luca muss kein zuverlässiger Erzähler sein – auch er ist verwirrt –, womöglich entspringt die anstössige Romanze auch nur der Phantasie Pilars. Die Rückblende verliert nie die Anmutung eines Traumgebildes. Gomes’ Erzählgestus der phantasievollen, schelmischen Entrückung stellt dabei ideologisch durchaus eine Gratwanderung dar. Rui Poças schwarzweisse Tableaus beschwören die Schönheit der Landschaft, erliegen der Faszination des Exotischen. Das Flair von Abenteuer (Gian Lucas Nachname lautet Ventura) bereitet Gomes sichtliche Freude. Zu einer Apologie der Kolonialherrschaft wird sein Film dadurch nicht. Er hält einen Abstand, der sich in der Ironie allein freilich nicht erschöpft. Das Groteske ist bei ihm in einen gelassenen Erzählfluss eingebettet. Sein Rückgriff auf die Ästhetik des Stummfilms versteht sich nicht als smarte Falschmünzerarbeit à la The Artist, sondern schafft für Bilder, die aus dem Kino und der Fotografie vertraut sind, einen ebenso historisierenden wie fabulierfreudigen Kontext.

Tabu 02

Schon in seinen früheren Filmen, namentlich in Aquele querido mês de agosto / Our Beloved Month of August, hat sich Gomes als vergnügter und unberechenbarer Bilderstürmer gezeigt. Er überschreitet behende die Grenzen der Genres, wechselt im Sekundenbruchteil die Register. Mit jedem Film nimmt er neu die Herausforderung an, das Inkongruente zu verschmelzen. Zum Musical ist es nie weit bei ihm – strenggenommen ist die zweite Episode von Tabu nicht stumm, sondern steckt voller musikalischer Zwischenspiele (die Phil Spector eigentlich erkleckliche Tantiemen einbringen müssten). Eine der Anregungen, aus denen der Film hervorgegangen ist, stammt von einem Musiker, der Gomes voller Nostalgie von der Zeit in Mozambique erzählte, als seine Band im weissen Anzug mit portugiesischen Coverversionen von Popsongs auftrat. Der Regisseur geht ohnehin wie ein Sammler vor, der Bilder, Töne und Erinnerungen unterschiedlichster Herkunft zusammenträgt und dann schaut, ob ein Film daraus werden kann. Dabei entstehen auch Anknüpfungspunkte im eigenen, wie gesagt schmalen Werk: Das Auge des untröstlichen Krokodils, das gewissermassen als Logo für Tabu fingiert, erinnert an den begehrlichen Blick, den ein Fuchs in der ersten Einstellung von Aquele querido mês de agosto in einen Hühnerstall wirft.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 7/2012 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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