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Beasts of southern wild 01

Beasts of the Southern Wild

Beasts of the Southern Wild ist einer dieser viel zu seltenen Filme, die den Zuschauer förmlich gefangen nehmen und nicht mehr loslassen, sei es durch die fremde, faszinierende Welt, sei es durch den sensiblen, ausdrucksvollen Stil, mit dem Zeitlin sie kreiert.

Text: Michael Ranze / 05. Dez. 2012

Man braucht ein wenig, bis man sich orientiert hat, auch wenn Hushpuppy, ein sechsjähriges, aufgewecktes schwarzes Mädchen, aus dem Off bereitwillig Auskunft gibt. Bathtub, Badewanne zu deutsch, heisst die kleine Gemeinde Armer und Ausgestossener, die vom Festland Süd-Louisianas abgeschnitten ist und nicht etwa hinter, sondern vor den Deichen und Wehren lebt, die New Orleans vor Sturmfluten schützen sollen. Für Hushpuppy ist es «der schönste Platz der Erde». Kräftige, grüne Pflanzen und zahlreiche wilde Tiere zeugen von regem Leben in den Sümpfen des Mississippi-Deltas. Doch das nahe Wasser und die Feuchtigkeit sind auch eine ständige Bedrohung und Beeinträchtigung. Bathtub – das ist ein irrealer Kosmos wie aus der Zivilisation gerissen und eigentlich auch kein Land mehr. Die Industrietürme von New Orleans leuchten in Sichtweite wie Mahnmale einer fremden, feindlichen Welt. Oder wie emblematische Schilder, die vor einer Übertretung der Grenze warnen.

Hushpuppys aufmerksame und sichere Off-Erzählung täuscht nicht darüber hinweg, dass man die Bedingungen, unter denen sie mit ihrem Vater Wink lebt, auch als deprimierend empfinden könnte. Gemeinsam wohnen sie in einer dreckigen, windschiefen Bretterbude, die – zum Schutz gegen das Wasser – auf wackligen Holzpfosten steht. Winks Boot, das einzig so etwas wie Mobilität garantiert, ist nichts anderes als die Ladefläche eines Pickup-Trucks, die von einem stotternden Aussenbordmotor angetrieben und nur von leeren Ölfässern an der Wasseroberfläche gehalten wird. Für die Bewohner von Bathtub ist jeder Tag ein Feiertag, sie tanzen und trinken, hier kennt jeder jeden, und jemals woanders zu wohnen, könnten sie sich – mit dem Stolz von Aussenseitern – gar nicht vorstellen. Warum auch? Sie leben in Einklang mit der Natur, Fische, Krabben, Vögel und sogar ein Alligator dienen als Nahrung. Doch die Biester des Filmtitels, übergrosse prähistorische Monster, die Auerochsen ähneln und dem ewigen Eis entsprungen sind, kündigen, einem Alptraum gleich, eine Katastrophe an: Ein verheerender Sturm ist vorhergesagt.

Auch zu Hause läuft längst nicht alles so harmonisch, wie Hushpuppy es uns glauben machen will. Die Mutter «schwamm weg», so erklärt es Wink, er selbst ist häufig betrunken, wütend und gewalttätig. Manchmal bleibt er auch tagelang fort, um zu jagen oder zu fischen. Doch Wink ist alles, was Hushpuppy hat, und seine strengen Lektionen helfen ihr zu überleben. Als sie versehentlich die Hütte in Brand setzt, versteckt sie sich in einem grossen Pappkarton – als drohe keine Gefahr, wenn die Flammen sie nicht entdeckten.

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Quvenzhané Wallis, die kleine Darstellerin der Hushpuppy und aus über viertausend Mädchen ausgewählt, ist denn auch das Ereignis dieses Films. Die Kraft und Zähigkeit, die Tapferkeit und Bestimmtheit, mit der sie den Zuschauer an die Hand nimmt, wirken absolut glaubwürdig und natürlich. Wie alle anderen Schauspieler, auch Dwight Henry als Wink, hat Wallis zuvor noch nie vor einer Kamera gestanden. Sie ist so einzigartig und besonders, dass man sich den Film ohne sie gar nicht vorstellen kann. Dwight Henry ist übrigens zu seinem Leben als Bäckereibesitzer mit Frau und fünf Kindern zurückgekehrt. Eine Filmkarriere kommt für ihn nicht infrage. Dafür ist er viel zu geerdet, und diese Erdung fliesst unaufdringlich in seine Darstellung mit ein.

Mit Aufkommen des angekündigten Hurrikans, der nicht von ungefähr an Katrina von 2005 erinnert, steuert Beasts of the Southern Wild auf seinen dramatischen Höhepunkt zu. Der anschliessenden verheerenden Überschwemmung weiss sich Wink nur dadurch zu helfen, indem er ein Wehr in die Luft sprengt und so das Wasser abfliessen lässt. Jetzt aber droht die Evakuierung von Bathtub durch die Behörden.

Nach dem gleichnamigen Stück von Lucy Alibar, die auch am Drehbuch mitschrieb, inszenierte Benh Zeitlin ein ungewöhnliches Spielfilmdebüt, das eine ganz eigene, markante Welt entwirft: die Bayous vor New Orleans, mit eigenständiger, jahrhundertealter Tradition und Kultur und beständiger Bedrohung durch die Naturgewalten. Die Protagonisten des Films sind darum furchtlose, zähe Kämpfer, die sich den Elementen entgegenstemmen. Sie sind von einem unerschrockenen Lebenswillen geprägt, mit einem «Gespür für das Unvermeidliche, das eines Tages alles von der Landkarte wegfegen wird», wie der Regisseur in den Produktionsnotizen anmerkt. «Meine eigentliche Frage ist, wo nehme ich die Kraft her, an dem Ort auszuharren, der mich das Leben kosten wird, ohne dabei die für den Ort so typische Hoffnung und Lebenslust zu verlieren», so Zeitlin weiter. Den Charakteren und ihrer Beziehung zueinander kommt darum eine besondere Bedeutung zu, das Band zwischen Vater und Tochter ist der eigentliche Kern des Films. Hushpuppy kann nur durch ihre Beharrlichkeit, ihre kognitive Klugheit und ihre emotionale Intelligenz überleben. Dazu gehört auch immer der Mut, sich von einem geliebten Menschen im rechten Augenblick trennen zu können.

Beasts of the Southern Wild ist einer dieser viel zu seltenen Filme, die den Zuschauer förmlich gefangen nehmen und nicht mehr loslassen, sei es durch die fremde, faszinierende Welt, sei es durch den sensiblen, ausdrucksvollen Stil, mit dem Zeitlin sie kreiert. Wenn Hushpuppy am Schluss auf dem Festland Zuflucht sucht im «Floating Catfish Shack» mit seinen freundlichen Huren, wähnt man sich in einer magischen, hypnotischen Phantasie, in der es trotzdem – ganz real – um die Dinge des Lebens geht.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 8/2012 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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