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The Deep Blue Sea

Obwohl die filmische Zeit mit ihren Möglichkeiten zu Dehnung, Raffung und Aufbruch der Chronologie viel eher der erinnerten Zeit als unserem Realitätsbegriff entspricht, gaukeln uns Historienfilme gerne eine kontinuierliche Erzählung vor. Der britische Regisseur Terence Davies hingegen lässt in seinen autobiographischen Werken das Liverpool der Nachkriegszeit bewusst in assoziativen Zyklen erinnerter Szenen auferstehen, die häufig nach musikalischen Gesichtspunkten strukturiert und angeordnet sind.

Text: Oswald Iten / 02. Mär. 2012

Obwohl die filmische Zeit mit ihren Möglichkeiten zu Dehnung, Raffung und Aufbruch der Chronologie viel eher der erinnerten Zeit als unserem Realitätsbegriff entspricht, gaukeln uns Historienfilme gerne eine kontinuierliche Erzählung vor. Der britische Regisseur Terence Davies hingegen lässt in seinen autobiographischen Werken das Liverpool der Nachkriegszeit bewusst in assoziativen Zyklen erinnerter Szenen auferstehen, die häufig nach musikalischen Gesichtspunkten strukturiert und angeordnet sind.

Nach zwei amerikanischen Literaturverfilmungen schöpft der 1945 geborene Davies für die Inszenierung von Terence Rattigans Bühnenklassiker «The Deep Blue Sea» nun wieder aus seinen Kindheitserinnerungen und jenen Geschichten, die ihm seine ältesten Geschwister über die vierziger und fünfziger Jahre erzählt haben, als die Flucht aus der noch immer vom Krieg geprägten Realität hauptsächlich aus Tanzveranstaltungen und amerikanischen Filmmusicals bestand.

Ausgehend von nostalgisch warmen, in ihrer abgenutzten Ärmlichkeit jedoch authentisch wirkenden Erinnerungsräumen erzählt Davies in Distant Voices, Still Lives (1988) von Arbeiterfamilien, deren Alltag durch Radiosendungen, Pub-Besuche, Hochzeiten und Beerdigungen ritualisiert ist. Prägende Ereignisse wie der Tod des gewalttätigen Vaters werden zu Fixpunkten im Gewebe der Erinnerungen, teilen die Zeit in ein Vorher und ein Nachher.

In The Deep Blue Sea ist der Selbstmordversuch der Protagonistin Hester Collyer so ein Moment. Die von Rachel Weisz innig gespielte Frau hat es zwar geschafft, aus dem engen Korsett der repressiven Londoner Nachkriegsgesellschaft auszubrechen, kann im selbstgewählten Leben aber keine Erfüllung finden, weil sie ihren einflussreichen Ehemann für einen jungen Piloten verlassen hat, der sie gar nicht liebt.

Für seine erste, vom Rattigan Estate unterstützte Theateradaption hat Davies das Stück von 1952 komplett zerlegt und aus der Perspektive der Hauptfigur neu zusammengesetzt. So beginnt der Film mit dem in der Vorlage bereits vollzogenen Selbstmordversuch Hesters, den der Regisseur zu einer elegischen Ouverture ausbaut.

Offenbaren sich bei Davies die Gefühle der Arbeiterschaft im Singen von amerikanischen Liedern, so kommt die innere Aufgewühltheit der bürgerlichen Hester im schwelgerischen zweiten Satz aus Samuel Barbers Violinkonzert zum Ausdruck. Dieses während des Zweiten Weltkriegs entstandene neoromantische Stück bestimmt den Fluss des ganzen Films und insbesondere der Anfangsszene, die mit einer für Terence Davies typischen Bewegung beginnt. Gemächlich gleitet die Kamera entlang einer Londoner Backsteinhäuserreihe, bis sie schliesslich auf einem Fenster im oberen Stock verharrt.

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Ist der Blick aus dem Fenster für den jungen Aussenseiter in Davies’ The Long Day Closes (1992) noch mit der passiven Teilnahme am Geschehen draussen verbunden, zieht Hester hier die Vorhänge zu, um sich im Selbstmitleid den ineinander fliessenden Erinnerungen an Ehemann und Liebhaber hinzugeben, während sie zu Barbers melancholischem Geigensolo langsam das Bewusstsein verliert.

Davies betont gerne, dass er dem Zuschauer in den ersten zwei Minuten mitteilen möchte, was dieser vom Film stilistisch und inhaltlich zu erwarten hat. Diese opernhafte, nur von einzelnen Dialogfetzen begleitete Eröffnungssequenz macht denn auch klar, dass der Regisseur weit mehr an der audiovisuellen Umsetzung der Geschichte interessiert ist als an Rattigans Dialog. Man kann sich daran stören, dass dabei zwangsläufig inhaltliche Nuancen des Stücks verloren gehen. Man kann diese Ouverture aber auch als elegante Einladung verstehen, sich im Strudel von Hesters Gefühlen zu verlieren, wie das im heutigen Kino nur noch selten mit solcher Intensität möglich ist.

Hesters vergebliche Bemühungen, den vom Selbstmordversuch abgeschreckten RAF-Piloten Freddie noch einen Moment länger an sich zu binden, werden immer wieder von assoziativ aufleuchtenden Erinnerungsmomenten aus den zehn Monaten ihrer Affäre überblendet. Eine verhältnismässig grell ausgeleuchtete U-Bahnstation löst gar eine Rückblende in die Zeit der Bombardierung Londons aus, während der Hester mit ihrem Mann William im Halbdunkel ebendieses Zufluchtsorts ausharrt. In einer einzigen Kamerafahrt erfasst Terence Davies das vom irischen Traditional «Molly Malone» erzeugte Zusammengehörigkeitsgefühl dieses Moments besser als dies jeder Dialog vermocht hätte.

Die U-Bahnszene, während der sich Hester an den Krieg erinnert, markiert den Wendepunkt des Films. Gleichzeitig verneigt sich Davies damit vor David Leans Brief Encounter. Jenes nach einem Drehbuch von Rattigans Zeitgenosse Noel Coward entstandene woman’s picture von 1945 erzählt die Geschichte von Laura Jesson, die dem Zuschauer in Rückblenden ihre Affäre mit dem verheirateten Arzt Alec beichtet, um schliesslich zu ihrem unwissenden Ehemann zurückzukehren. Lauras innere Verfassung wird dabei von Rachmaninoffs zweitem Klavierkonzert untermalt.

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Aus historischer Sicht ist bemerkenswert, dass die damals gefeierten Autoren Coward und Rattigan im bürgerlichen West End Theater kontinuierlich die Institution der Ehe hinterfragten, auch als das Klima im bankrotten Nachkriegsengland wieder repressiver wurde. Im direkten Vergleich mit Leans Klassiker zeigt sich, dass Davies’ Film von Teilen der Kritik zu vorschnell als inhaltlich veraltet abgetan wurde. Zwar spielt The Deep Blue Sea tatsächlich in einer aus heutiger Sicht überkommenen Gesellschaft, in der es für eine Frau undenkbar war, ihren Ehemann zu verlassen. Als stark galten damals Frauen, die ungeachtet häuslicher Gewalt stoisch ihre familiären Pflichten erfüllten, wie Davies in Distant Voices, Still Lives eindrücklich gezeigt hat.

Doch während Coward seinem Einakter von 1936 für die Verfilmung eine eindeutige Rückkehr zur Familie anfügte, hat Hester in Rattigans Stück den Ehebruch zur Zeit der Handlung bereits hinter sich und muss sich aus einer neuen selbstgewählten Abhängigkeit befreien. So gehört es zu den Stärken von Davies’ Bearbeitung, dass er die Figuren nicht modernisiert hat, sondern ganz aus dem Gesellschaftsverständnis der damaligen Zeit handeln lässt.

Auch wenn sich ein heutiges Publikum nicht so schnell mit einer Frau identifizieren wird, die sich aus Gram über einen vergessenen Geburtstag das Leben nehmen will, gelingt es Davies doch, das unterschiedliche Verständnis von Liebe als zeitlos aktuellen Aspekt der Dreiecksgeschichte herauszuarbeiten. Das Dilemma besteht darin, dass jede von der andern Person etwas will, was diese nicht geben kann. Die tatsächliche Konstellation von Rattigans Stück gibt denn auch einiges mehr her als die beliebte Lesart, es handle sich bei Hesters Leidenschaft für Freddie um die verklausulierte Darstellung einer damals verbotenen homosexuellen Beziehung.

Während die durchwegs positiv dargestellten Figuren in Brief Encounter alle der gleichen Schicht angehören, verlässt Hester den Rolls Royce des Richters Collyer für die schäbige Mietwohnung eines jungen Kriegsveteranen. Der gut aussehende Freddie ist ihr jedoch eher Projektionsfläche für ihre neu entdeckte Leidenschaft denn gleichwertiger Partner. Als wahrer Fremdkörper in ihrem Leben zeigt sich der vom Krieg Verbitterte schliesslich in einer von Davies hinzugefügten Szene im Kunstmuseum, die zuerst durch Tom Hiddlestons bühnenhaftes Schauspiel irritiert.

Freddie weiss, dass er nicht zum leidenschaftlichen Liebhaber taugt, will aber genauso wenig der Bösewicht sein wie der von Simon Russell Beale zurückhaltend verkörperte Ehemann, dessen anhaltende Liebe zu Hester bemitleidenswerte Züge annimmt. Die bei Rattigan ausführlich gezeichnete Beziehung zwischen den beiden Männern bleibt im Film vage, da Davies’ Erzählperspektive nur Szenen zulässt, bei denen Hester zugegen ist.

Ungeachtet der radikalen Reduktion von Rattigans Text hat Terence Davies aus der 1955 erstmals verfilmten Vorlage ein emotional authentisches Stück Kino geschaffen. The Deep Blue Sea mag trotz aufgebrochener Chronologie konventioneller gebaut sein als Distant Voices, Still Lives, doch ist es Davies gelungen, mit den bewährten Stilmitteln seiner autobiographischen Filme eine kohärente Geschichte zu erzählen, deren weich fokussierte, grobkörnige Bilder den Eindruck subjektiver Erinnerungen vermitteln.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2012 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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