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Poupoupidou 01

Poupoupidou

Wenn Poupoupidou etwas Aufklärerisches gewinnt, dann dadurch, dass Gérald Hustache-Mathieu so gewitzten Gehirnes ist wie sein Held bedürftigen Geistes. Der französische Cineast weiss nur zu gut und setzt es unerbittlich um: Kriminalgeschichten aller Art sollten nur noch als Grotesken überhaupt gestattet sein.

Text: Pierre Lachat / 02. Mär. 2012

Von der östlichen Seite der Grenze her kommend hat da schon früher ein Filmemacher etliche Spuren hinterlassen, im tiefen Schnee oder auf dem steinigen Boden. Alain Tanner drehte in der Gegend der sogenannten zone interfrontalière beim Flecken Mouthe am Oberlauf des Doubs, 1985 den leider arg verkannten No Man’s Land. Fünfzig Kilometer nördlich von Genf, wo die France profonde und die Suisse profonde einander Gutenacht sagen, hat sich eine Art Niemandsland zwischen die Grenzen geklemmt. Der schmale Splitter untersteht keiner von zwei Gerichtsbarkeiten und ist ein Überbleibsel aus den europäischen Bürgerkriegen; damals wurde sensibles Gelände entmilitarisiert.

Als unscharfer Begriff geistert «die Zone» quer durch die Filmgeschichte und meint bald etwa Ostberlin, den Panamakanal oder den argentinischen Süden, bald einen lichtscheuen Winkel des Juras. Von Sicherheit ist dann gern die Rede, und was entsteht, ist meistens das Gegenteil davon. Bei Alain Tanner leisten die undurchsichtigen Umstände viel schattenhaftem Handel und Wandel nach allen Richtungen Vorschub. In Poupoupidou fungiert der herrenlose Streifen Land als Fundort für eine verschneite Leiche. Klar, dass die Umstände, unter denen eine junge Frau zu Tode kommt, gerade auch darum suspekt sind, weil sich die Stelle eben dort befindet, wo kein Schnüffler aus einem der benachbarten Staaten die Nase hinstecken dürfte.

Anstelle eines beamteten oder privaten Gummischuhs schickt der Autor und Regisseur Gérald Hustache-Mathieu, von der westlichen Seite der Zone her, einen Schreiberling nach dem Niemandsland, wo er im schlecht geheizten Gasthaus «Les Flocons», sprich: «Die Flocken» friert. Der Verfasser von Krimis der marktsicheren Sorte nennt sich oder heisst verbrieft: David Rousseau, nach dem gleichnamigen Philosophen der Aufklärung, der lange unweit von hier gelebt hat. Der Held ist indessen unerleuchtet geblieben; Verbrechen, Verdacht und Verfolgung kennt er nur aus Büchern und Manuskripten. Branchenüblich hochstapelnd lässt er sich für den James Ellroy der frankophonen Weltzone halten; doch gedenkt er auch, sich nächstens als Skandinavier zu tarnen, unter einem Pseudonym mit dem gestrichenen «o», lies: «ø» drin. Sieht echt aus. Andere tun’s schliesslich auch.

Charme bolzende Schnuckiputzi

Statt mitten in den kleinsibirischen Winter hineinzustolpern wären Klügere auf Distanz zu den Widrigkeiten der Gegend, der Jahreszeit und des anstehenden Dramas gegangen; dem Hergereisten jedoch wird just die berufsbedingte Ein-falt zustatten kommen. Er begegnet nämlich dem Ärgsten, was einem phantasiereichen, aber in praktischen Belangen einer Ermittlung ahnungslosen Zeilenschinder unterkommen kann: mehr und mehr nimmt die Affäre Züge an, als hätte sie sich der Simpel selber ausgedacht oder als halluziniere er das Geschehen fiebrig vor sich hin. Sowieso muss er den Fall wider Willen persönlich untersuchen statt ihn seinem Serien-Kommissar zuschieben zu können, der sinnigerweise, nach dem Zeitgenossen Rousseaus, Voltaire genannt wird.

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Und doch, wenn der Film etwas Aufklärerisches gewinnt, dann dadurch, dass Hustache-Mathieu so gewitzten Gehirnes ist wie sein Held bedürftigen Geistes. Der französische Cineast weiss nur zu gut und setzt es unerbittlich um: Kriminalgeschichten aller Art sollten nur noch als Grotesken überhaupt gestattet sein. Sein Poupoupidou treibt denn auch mit gespieltem Entsetzen Scherz und schielt dankbar nach entsprechenden Exempeln seitens diverser spinnerter Dänen oder Norweger.

Das vereiste Opfer einer Verfolgung durch sich selbst oder andere ist eine knapp Volljährige von der lokalen Tankstelle, die sich für die wiedergeborene Marilyn Monroe, bürgerlich Norma Jean Mortensen halten lässt; doch wie unter Hypnose scheint sie auch selber an die Reinkarnation zu glauben. Als Candice Lecœur schmeisst sich die geborene Martine Langevin an: eine Charme bolzende Schnuckiputzi von unstetem Ich, die noch lange werweisst, ob sie in die Entfremdung genötigt geworden ist oder es fahrlässig selber hat dahin kommen lassen. Das Sonnenscheinchen von ganz Mouthe peroxydiert den Rotschopf auf strohblond und entblösst werbend die alabasterne Pelle für den nicht minder blassen hochjurassischen Weichkäse; damit ist willkommener Anlass zu einer göttlich strafenden Veräppelung jener kläglichen Spots und Plakate gegeben, die schon von allein genug ungewollt Parodistisches mit sich führen.

Imitation und Leidensweg

Auf den Spuren ihres Idols verpasst Candice Termine, führt Tagebuch, macht sich unbefangen an bebrillte Intellektuelle heran und nach Schlampenart an Präsidenten, geht in psychiatrische Behandlung und verzweifelt an der Frage: Wer bin ich? Bereits verrutscht ihr Dasein gegen das Nirgendwo hin, und sie wähnt sich in Amerika; im Hinterkopf spielen verirrte Melodien: «I’d be safe and warm / if I was in L. A. / California Dreamin’ / on such a winter’s day.» Aus schmollender Lippe lockt das Stimmchen jener Marilyn, die wohl auch selber nur eine künstliche Monroe war: «I wanna be loved by you, just you, and nobody else but you / I wanna be loved by you alone: poopoopidoo!» Alle müsst ihr mich lieben; und schmeichelt doch jedem Einzelnen: gemeint bist nur du allein, pupupidu

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Existiert jemand namens Candice Lecœur, oder ist die Figur vollends eine Fiktion der hinterwäldlerischen Medienöffentlichkeit geworden; liest die Kleine zu viele Krimis und dann erst noch, logischerweise, die des hoffnungslos auf den Markt gekommenen David Rousseau? Möglicherweise nur simuliert, vervollständigt der versuchte Selbstmord die Imitation der Hollywood-Ikone auf ihrem Leidensweg. Der Tastenknecht wiederum hat gewiss Übung im Erfinden von beliebigen Verwirrspielen, aber so viel hanebüchene Realität übertrifft selbst seine eigenen abstrusen Plots.

Irgendwann kapiert er das Was und Wie des Geheimnisses von der Zone, bloss steht er sich selbst im Weg, sobald nach dem Warum gefragt wird. Ihm wird kaum je aufgehen, dass er in der Marilyn vom Niemandsland eine seelisch Verwandte hatte, wenn auch keine im Geiste, während er selber den Auflagenschubser nur immer mimt. Immerhin hat er jetzt, auf der Rückfahrt ins Irgendwo am andern Ende der Republik, schon einen Titel für den nächstbesten Reisser parat, den ihm seine Verlegerin mittels täglicher Drohungen entreissen will. Nichts und niemand soll ihn daran hindern: alles frisch Erlebte wird unter einem neuen falschen Namen zurückverdreht in den alten Unfug, den es sich wie gewohnt aus den Fingern zu saugen gilt.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2012 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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