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The Turin Horse

«Am 3. Januar 1889 tritt Friedrich Nietzsche in Turin durch die Tür des Hauses Via Carlo Alberto 6.» So fangen konkrete Geschichten an. Eröffnen sie einen Film von Béla Tarr, dürfen wir misstrauisch sein.

Text: Martin Walder / 02. Mär. 2012

«Am 3. Januar 1889 tritt Friedrich Nietzsche in Turin durch die Tür des Hauses Via Carlo Alberto 6.» So fangen konkrete Geschichten an. Eröffnen sie einen Film von Béla Tarr, dürfen wir misstrauisch sein. Dieser erratische Autor will keine Geschichten im Sinne von Plots erzählen. A torinói ló / The Turin House, sein erklärtermassen letzter Film, beginnt bei noch schwarzer Leinwand mit einer Anekdote, doch einzig, um bald seinen eigenen Weg einzuschlagen und uns auf sein Terrain zu lotsen.

Béla Tarrs filmisches Terrain ist, um es etwas hochgestochen zu sagen, das Sein selber. Seine Filme erzählen nicht vom Sein, sie erzählen das Sein, bis die Dinge und die Menschen in reiner Anschauung zum Greifen sind – in der Literatur vielleicht der Poetik Peter Handkes vergleichbar. Tarr hat dafür über die Jahre eine Filmsprache entwickelt, die zu seinem Markenzeichen geworden ist. Sie etabliert weniger in klassischer dynamischer Montage von Schnitt und Gegenschnitt die Welt, als dass sie diese in langen und langsamen, oft unmerklichen, teils komplizierten Kamerabewegungen physisch ertastet und entfaltet. Es ist überdies eine filmische Welt, die an ihren visuellen Grenzen nicht haltmacht, sondern in Klang und Rede auch das nicht Sichtbare mitregistriert. Überhaupt bewegen sich diese Filme ständig zwischen Innen und Aussen – Fenster und Mauern sind quasi nur Membranen eines Raums. Auf diese Weise erschliesst Béla Tarr seinen Kosmos einer fast dokumentarischen Wahrnehmung von Raum und Zeit als Kontinuum. Abgezirkelt. Suggestiv. Sinnlich. 502 Minuten brauchte er dazu in seinem berühmtesten Film Sátántangó von 1994, in <The Turin Horse sind es immerhin 146 Minuten bei ganzen 30 Einstellungen. (Ein durchschnittlicher Spielfilm hat deren Hunderte.)

Béla Tarr, das ist vielleicht nicht im ursprünglichen Vorsatz, so doch im Effekt, auch Widerstand gegen eine (filmische) Anschauung, welche die Präsenz und Wahrnehmung von Zeit nicht mit zur Voraussetzung hat und enthält. Nicht zufällig stösst man im Zusammenhang mit Tarrs Namen immer wieder auch auf jene der Belgierin Chantal Akerman (Jeanne Dielman, 23 Quai du commerce, 1080 Bruxelles) oder des Iraners Sohrab Shahid Saless. Im Gespräch wird aber auch deutlich, wie bewusst sich Tarr des manieristischen Potentials seines Stils ist: zwischen demonstrativer Choreografie (man denkt an den späten Theo Angelopoulos …) und reportierendem Abfilmen in TV-Manier. Im Fall jüngerer Autoren drängen sich Namen wie Nuri Bilge Ceylan (Once Upon A Time In Anatolia) oder Sergei Dwortsevoi in seinen Dokumentarfilmen auf.

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Doch zurück zu Nietzsche in der aus dem Off erzählten Anekdote vom Anfang des Films. Der Philosoph tritt aus dem Haus, sieht auf der Strasse einen Kutscher sein widerspenstiges Pferd malträtieren und wirft sich schluchzend um den Hals der gepeinigten Kreatur. Er wird nach Hause gebracht, verstummt und fällt für seine letzten Jahre in geistige Umnachtung. «Über das Schicksal des Pferds wissen wir nichts», lesen wir im Vorspann. Diesem Pferd und nicht Nietzsche gilt der Film. Tarr hat die mögliche “Geschichte” hinter der Anekdote mit seinem langjährigen Drehbuchpartner László Krasznahorkai ersonnen. Es ist eine “Geschichte” vom Ende der Tage. Der Mensch ist da nur eine unter allen betroffenen Kreaturen. Das bockende Pferd ist eine andere, und der Holzwurm in der Hütte, der am ersten Tag der Geschichte verstummt, eine weitere.

Unerbittlich ist der Anfang: Ein Kutscher namens Ohlsdorfer mit Pferd und Wagen ist auf dem Heimweg auf der Landstrasse, entlang kahlen Büschen und Bäumen, gegen den unbarmherzigen Wind. Vermutlich der Kutscher und das Pferd der Anekdote, sicher ist es nicht. Sechs Minuten dauert die Sequenz. Die Kamera gleitet lange, oft in Aufsicht gegen den trüben Himmel, parallel auf gleicher Höhe mit dem stoisch seine Arbeit verrichtenden Tier, oder sie überholt Kutsche und Pferdeleib und schwenkt dabei frontal vor die schnaubenden Nüstern. Der Himmel steht grau in grau und schwarz in schwarz, undurchdringlich voll staubiger Luft. Schwere minimalistische Musikakkorde. Erst beim eingeblendeten Titel ist der orgelnde Wind zu hören, der danach kaum mehr verstummen wird – ebenfalls in immer gleich minimalistischer Variation. Wieder sorgt Béla Tarrs Komponist Mihály Vig für den stupenden Soundtrack.

Sechs (in Zwischentiteln) abgezählte Tage lang bleiben wir mit dem Kutscher, seiner Tochter und dem Pferd. In einer Talsenke steht ihr Haus mit Schuppen und Stall. Das Leben ist ein Ritual. Kartoffeln kochen, die dann heiss mit blossen Fingern geschält mit einem Körnchen Salz gegessen werden. Teller waschen. Wäsche waschen, auswringen, Seil spannen, und Wäsche aufhängen. Ankleiden und Auskleiden. Dafür ist die Tochter da, eingespielte Hierarchie bedarf nur noch kurzer Befehle. Der Vater lahmt am rechten Arm, das Brennholz spaltet er mit der Linken. Anspannen, Ausspannen des Pferdes, das streikt und auch durch Ohlsdorfers Schläge nicht zu bewegen ist, Karren versorgen, den Mist führen. Wasser holen am Ziehbrunnen, gegen den tosenden Sturmwind gestemmt. Repetierte Mühsal. Wer will, kann Nietzsches Immergleiches darin suchen, ansonsten haben wir die Eingangsanekdote längst verlassen.

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Zweimal bricht die Aussenwelt in das Einerlei. Ein Nachbar braucht Schnaps-Nachschub und lässt eine paranoide Rede vom Stapel, von Mächten, die die Kontrolle über die Welt an sich reissen. Vage Bedrohung von aussen, nie namhaft gemacht, aber Angst einflössend. Man hört das Echo auf Tarrs düsteren früheren Film Werckmeister Harmóniák. Am dritten Tag dann fährt eine Kutsche mit grölenden Zigeunern vor. Sie klauen das letzte Wasser aus dem Ziehbrunnen, lassen dem Mädchen dafür ein antireligiöses Regelbuch zurück, in dem es abends stockend liest.

Am vierten Tag ist der Brunnen leer – ein Zeichen mehr. Vater und Tochter brechen auf. Der Handkarren wird beladen, das Pferd trottet am Seil mit. Als sie oben bei einem kahlen Baum hinter dem Horizont verschwunden sind und wenige Augenblicke danach die Ohren des Pferds wieder auftauchen, wissen wir, dass wir im Lande von Samuel Beckett sind. «Komm wir gehen», sagt Estragon zu Wladimir. «Wir können nicht.» «Warum nicht?» «Wir warten auf Godot.» «Ach ja.» Sie gehen nicht von der Stelle – so heisst’s im Stück. Herr Godot kommt nicht, und bei Béla Tarr ist Gott mit Sicherheit tot. Nur dass in The Turin Horse das Leben nicht unerträglich leicht ist wie bei Beckett, aber dessen Zwischenwelten und zeiten im leisen Verglimmen des Lichts vergleichbar. Am sechsten Tag erlischt die Funzel ganz, obwohl noch mit Öl gefüllt. Das lässt dann auch die sonst ständig bewegte Kamera mit Blick auf die beiden sich am Tisch gegenübersitzenden Menschen erstarren.

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Man darf vermuten, es sei jenes Beckett’sche Verständnis des Kosmos, das Béla Tarr im Gespräch sich so vehement gegen den Vorwurf wehren lässt, sein Film sei düster. Er ist schwer, und schwarzweiss ist natürlich, wie seit langem bei Tarr, die adäquate Farbe. Auch dieser Kosmos ist in seiner formal strengen Wahrnehmung jenseits des Sentiments, aber nicht jenseits der Würde des Lebendigen, wie es sich bei Beckett noch in einer Mülltonne oder einem Sandhügel steckend behauptet. In der Strenge der visuellen und akustischen Komposition, in der Repetition des Immergleichen in kleinen Variationen, in der Distanznahme der Abstraktion tritt die Würde hervor.

In Momenten greift sie ans Herz, wenn auch nicht dort, wo wir sie erwarten würden, bei Vater und Tochter, sondern draussen im einsamen Stall. Am vierten Tag lässt der Film ihn uns nicht mit den Menschen verlassen und ins Haus gehen, sondern allein mit dem Tier im Dunkeln zurückbleiben, das nicht mehr trinken und nicht mehr fressen will. Aber das Pferd erzählt auch uns nicht weshalb. Da steht es, am fünften Tag dann auch noch abgehalftert, man kann es nur so sagen: nackt, von Angesicht zu Angesicht mit uns, die wir uns in der stummen Kreatur wiedererkennen. In diesem Augenblick ist Béla Tarr der Reinheit, von der er spricht, am nächsten.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2012 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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