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Brave 01

Brave

Mit Brave scheint sich Pixar nun gar in jenes Märchenghetto manövriert zu haben, dem zu entfliehen es ursprünglich angetreten ist. Aus dieser Perspektive ist jedoch leicht zu übersehen, wieviel reifer Pixars kraftvolles Märchen im Vergleich zu einem Prinzessinnenfilm wie Tangled daherkommt. Im Gegensatz zum Disneyfilm verzichtet Brave radikal auf Bösewicht und Liebesgeschichte.

Text: Oswald Iten / 25. Juli 2012

Nicht genug damit, dass die einstigen Innovatoren von Pixar keinerlei Ambitionen zeigen, über den Familienfilm hinauszuwachsen. Mit Brave scheint sich das Studio nun gar in jenes Märchenghetto manövriert zu haben, dem zu entfliehen es ursprünglich angetreten ist. Aus dieser Perspektive ist jedoch leicht zu übersehen, wieviel reifer Pixars kraftvolles Märchen im Vergleich zu einem Prinzessinnenfilm wie Tangled daherkommt. Im Gegensatz zum Disneyfilm verzichtet Brave radikal auf Bösewicht und Liebesgeschichte.

Im Zentrum der im schottischen Hochland des zehnten Jahrhunderts angesiedelten Legende steht Prinzessin Meridas Beziehung zu ihren Eltern Elinor und Fergus. Während sie mit dem bärenstarken Vater die Freude am Bogenschiessen und Reiten teilt, fühlt sich Merida von Elinors Unterweisungen in höfischem Protokoll zunehmend eingeengt. Als die freiheitsliebende Prinzessin nun auch noch einem Wettstreit beiwohnen soll, bei dem die Erstgeborenen der befreundeten Clans um ihre Hand kämpfen, erhebt sie sich mit jugendlichem Ungestüm gegen die Pläne ihrer Mutter und brüskiert die anwesenden Clanchefs.

Brave 03

Die erstaunlich vielschichtig dargestellte Mutter-Tochter-Beziehung geht auf Brenda Chapmans persönliche Überforderung mit ihrer aufmüpfigen fünfjährigen Tochter zurück, vor deren Pubertät ihr schon damals graute. Als die erfahrene Storyboarderin und Regisseurin von Pixar die Möglichkeit erhielt, ein persönliches Projekt zu verwirklichen, wollte sie mit einem ernsthaften Kunstmärchen überkommene Rollenbilder umkrempeln, ohne in die Parodie zu verfallen.

Erzählerisch orientiert sich Brave nicht am klassischen Märchen, dessen Geschichte von einem Bösewicht motiviert wird, sondern wie die meisten Pixarfilme seit Toy Story an jener Spielart des [buddy movie], bei der sich zwei positive Figuren mit unterschiedlichen Zielen gegenüberstehen: Durch egoistisches Verhalten bringt die eine Figur die andere aus Versehen in Gefahr und muss diese dann retten. Im Kampf gegen eine äussere Bedrohung werden die beiden schliesslich zu echten Freunden.

Nach dem Tod des legendären story supervisors Joe Ranft gelang es Pixar jedoch selbst mit Originalstoffen wie Wall-E und up nicht mehr, inhaltliches Neuland zu betreten. Obwohl Brenda Chapman im Oktober 2010 nach sechsjähriger Entwicklungszeit durch den Storyboarder und Schottlandkenner Mark Andrews ersetzt wurde, krankt brave noch an diversen inhaltlichen Problemen. Die emotionale Balance zwischen ungewohnt erwachsenem Drama und kindlich brachialem Humor gelingt Andrews aber überraschend gut.

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Betritt Merida erst einmal den Wald, führt das Zusammenspiel von impressionistischer Beleuchtung und animatorischen Glanzleistungen bisweilen zu wahrhaft magischen Momenten. Selbst wer dem Fotorealismus im Animationsfilm skeptisch gegenübersteht, kann sich der visuellen Faszination von Brave kaum entziehen. Zum ersten Mal strahlt ein digitaler Animationsfilm jene taktile Qualität aus, die bisher dem Puppentrick vorbehalten war. Die für Meridas wild gelocktes Haar entwickelte Technik ermöglichte auch die Kreation einer von Moos und Flechten überwucherten Felslandschaft mit Ruinen, die den Eindruck jahrhundertealter Geschichten vermitteln.

In der sorgfältigen Inszenierung der mystischen Aspekte manifestiert sich endlich in einem Pixarfilm die jahrelange Verehrung für Hayao Miyazaki, der es versteht, mit Andeutungen die Phantasie des Zuschauers anzuregen. Nur zu gern teilen wir Meridas kindlich animistischen Blick, wenn sich die aufgewühlte Prinzessin von blau schimmernden will-o’-the-wisps, jenen an Mononoke hime gemahnenden Moorgeistern, zu einer uralten Holzschnitzerin führen lässt, die eindeutig in der Tradition von Miyazakis ambivalenten Zauberinnen steht.

Vom Kuchen, den Merida der Alten abkauft, erhofft sie sich eine Veränderung im konfliktgeladenen Machtverhältnis zu ihrer Mutter, welches sich immer wieder im Zusammenhang mit Essen offenbart. Nachdem Merida – wie manche Miyazaki-Figur – ihr ursprüngliches Ziel unerwartet lange vor Filmende erreicht hat, sorgt der Rückgriff auf einen Countdown für anhaltende Spannung. Schliesslich muss Merida nun die Folgen ihres Verhaltens wiedergutmachen.

Während Chapmans Grundkonstellation den steinigen Produktionsprozess unbeschadet überstanden hat, verlieren die dunkleren Aspekte der Handlung zunehmend an Bedeutung. Selbst mit der spannenden Wendung, dass der warmherzige Vater unbewusst vom Verbündeten zur Bedrohung wird, wissen die Filmemacher wenig innovativ umzugehen. Dies hängt auch damit zusammen, dass der von Billy Connolly hinreissend gesprochene Fergus nach einem vielversprechenden Anfang schnell wie die anderen Männer des Films zur Karikatur verkommt. Meridas stumme Brüder, die den Vater umwerfend imitieren und sich wie einst Tick, Trick und Track unbeschadet durch das von ihrer Naschsucht verursachte Chaos schlängeln, lassen solche Mängel jedoch gerne übersehen.

Um Chapmans archaisch-moderne Geschichte stimmig zu Ende zu erzählen, wären wohl weniger Hektik und eine längere Laufzeit unabdingbar gewesen. Technisch setzt das mitreissend inszenierte Märchen aber auch so Massstäbe. Was emotionale und atmosphärische Dichte im Familienfilm angeht, macht den Filmemachern von Pixar so bald niemand etwas vor. Doch fehlt ihnen scheinbar der Mut, die eigenen Vorgaben ernstzunehmen und bis zum Schluss durchzuziehen.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/2012 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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