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Blue Jasmine

Man muss nur warten können bei Woody Allen. Darf sich mit ihm in London, Paris, Barcelona oder Rom amüsieren. Darf miterleben, wie ihn das Postkarten-Europa zu hübschen Ideen stimuliert und zum Spielen mit den Klischees bringt. Man muss sich dabei nicht langweilen, aber auch nicht immer lange aufhalten.

Text: Martin Walder / 06. Nov. 2013

Man muss nur warten können bei Woody Allen. Darf sich mit ihm in London, Paris, Barcelona oder Rom amüsieren. Darf miterleben, wie ihn das Postkarten-Europa zu hübschen Ideen stimuliert und zum Spielen mit den Klischees bringt. Man muss sich dabei nicht langweilen, aber auch nicht immer lange aufhalten. Das Spielen überlässt er, fragil geworden, inzwischen andern. Schauspieler reissen sich darum, auch weil sie wissen, dass sie kaum je besser sein können als auf seinem Set.

Wir freuen uns, dass es ihn Jahr für Jahr einfach gibt, verlässlich wie der Weihnachtsmann. Ein schmaler, alter, skeptischer Weihnachtsmann mit Hornbrille, einer, der sich auskennt in dem, was schwer ist, und es deshalb unbedingt leichtnehmen muss. Manchmal tut er das fast wurstig, dann wieder kämpfen seine Pointen gegen die Schatten unserer menschlichen Natur an. Wie gerne er seine jährlichen Geschenke uns verteilt, ist gar nicht so sicher. Für ihn selber ist das Ritual (über)lebensnotwendig: Ich filme, also bin ich. Und erst wenn er filmt, sind auch wir! So weit hat er sich und uns in über vierzig Jahren gebracht!

Man muss einfach warten können. Zum Beispiel, wie jetzt, auf Blue Jasmine, der so sketchig anfängt und einen dann unter der Oberfläche nicht mehr loslässt wie ein Woody-Film seit Match Point (2005) nicht mehr. Um Jasmine, blue Jasmine, also eine gefährdete Jasmine, dreht sich alles. Umso schlimmer, als gleichzeitig auch die Stadtneurotikerin von Woodys Gnaden sich um sich selber dreht. Bis es denen in ihrem Bannkreis gelingt, von dem eiernden Karussell dieses verstörten Lebenslaufs abzuspringen und augenreibend wieder Boden unter den Füssen zu kriegen. Jasmine ist als Frau des blendenden Finanzhais Hal blendend schön, sexy und reich. Deshalb weiss sie eigentlich nicht so genau, wer sie ist. Als die crimes & misdemeanors sich in ihrem Leben einnisten, ist es für sie schon zu spät, es herauszufinden. So zumindest lässt der Schluss vermuten, wenn Cate Blanchett auf einer Parkbank mit derart trostlosem Blick ins Leere murmelt, dass man erst wieder zu atmen imstande ist, wenn es erlösend schwarz wird auf der Leinwand.

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Zwischen zwei zeitlichen Ebenen springt der Film hin und her, manchmal durch Stichwortassoziationen in Jasmines Kopf elegant verknüpft: Jasmine erst reich – und Jasmine dann mausarm am Boden. Jasmine mit ihrem Hal an ihrer New Yorker Fifth Avenue, als die proletarische Adoptivschwester Ginger, mit Ehemann Augie, ungebeten aus Frisco zu Besuch kam, um sich beraten zu lassen, wie sie Lottogeld am besten anlegen könnten. Warum nicht beim smarten Gatten Hal? Und niemand, niemand, der sie hätte warnen können! Denn nur eine Zeitspanne später kreuzt umgekehrt Jasmine nun bei Ginger in San Francisco auf, mit Louis-Vuitton-Koffern, aber völlig neben den Schuhen, ohne Dollars. So fängt der Film ziemlich burlesk an. Dazwischen liegt die Katastrophe: Hals chronische Untreue Jasmine gegenüber, und sein kriminelles Geschäften, mit dem er auch Gingers und Augies Existenz ruinierte. Bevor die erniedrigte Jasmine beim FBI anrief …

Mit nichts mehr kommt diese Jasmine zurecht. Nicht mit ihrem Geld, das sie gar nicht mehr hat, aber so tut, als hätte sie es noch. Nicht mit ihrer Zukunft, die die Ahnungslose irgendwie als Innendekorateurin herbeischwadroniert, um effektiv bloss als Vorzimmerdame des armen, kleinen, geilen Zahnarzts Dr. Flicker hängen zu bleiben. Als ein neuer Prinz namens Dwight dann doch noch Bingo verspricht, verheddert sie sich so saublöd ins Schwindeln, dass der Ehrgeizling auf politischem Parkett in der Bay von San Francisco das Weite sucht. Nicht gerade fein, aber verständlich. Gegenläufig kommt auch mit Jasmine niemand zurecht – nicht ihr Sohn, der sich aus den Verstrickungen freiboxt, nicht ihre gute Seele von Schwester Ginger, Jasmines gerades Gegenteil. Und schon gar nicht vermag Jasmine bei Gingers Männern zu landen. Der bullige, aber redliche Augie, ein Taschenbuch-Bruce-Willis mit Herz, bleibt zu Recht verbittert. Mit seinem Nachfolger, dem jähzornigen Muskelpaket Chili, ein Taschenbuch-Marlon-Brando auch mit Herz, gibt es nichts als Zoff.

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Da ist dann die Referenz nicht länger übersehbar: Tennessee Williams’ legendärer Südstaaten-Klassiker «A Streetcar Named Desire». In den Figuren von Jasmine, Ginger und Chili gespenstern Blanche Dubois, Stella und Stanley Kowalski in Woody Allens Szenario herein, auch wenn Allen das gewalttätige sexuelle Drama (zwischen Blanche und Kowalski) nicht so weit treibt wie das Stück damals. Geblieben ist, im Kern dieses tief melancholischen Films, die «Endstation Sehnsucht». Es ist die Sehnsucht, die Jasmine in den Wahnsinn treiben und Ginger sich selber vorübergehend mit dem verheirateten Al untreu werden lässt. Es ist im Mief das Streben zum Besseren, das auch ehrliche Kerls wie Augie und Chili umtreibt – manchmal hässlich, aber auch verzweifelt legitim. Alle um sie herum konfrontiert Jasmine mit der eigenen Sehnsucht, die uns lebendig erhält und ebenso korrumpiert.

Das Urteilen bleibt uns überlassen: Der hohe Preis, den Jasmine bezahlt, liegt auf der Hand; die Demütigungen der andern hinterlassen zumindest Kratzer in der Seele. Aber Woody Allen lässt allen ihre Würde, er hat seine Figuren gern. Das ohne Ausnahme traumhafte Schauspielerensemble folgt ihm darin bedingungslos. Von der grandiosen Cate Blanchett kann man schlicht den Blick nicht wenden, aber wie wunderbar lebensnah begegnen uns, nur zum Beispiel, auch Sally Hawkins als Ginger oder Bobby Cannavales Chili.

Nicht auszuhalten der Gedanke, was einmal sein wird, wenn uns Woody Allen nicht mehr Jahr für Jahr seinen neuen Film beschert.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 7/2013 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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