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Io e te 01

Io e te

Bernardo Bertolucci ist noch immer eine der ganz grossen RegieIkonen Italiens, von vielen hoch geschätzt und verehrt. Nun hat er zum ersten Mal seit zehn Jahren, seit Dreamers, wieder einen Film gedreht, und zum ersten Mal seit dreissig Jahren, seit La tragedia di un uomo ridicolo, wieder einen Film auf Italienisch.

Text: Michael Ranze / 06. Nov. 2013

Einer der anrührendsten und emotionalsten Momente beim Cinema Ritrovato im Juli 2011 in Bologna war der Auftritt von Bernardo Bertolucci. Eine digitale Restaurierung seines Meisterwerks Il conformista (1971) sollte auf der Piazza Maggiore gezeigt werden. Doch kaum hatten Mitarbeiter Bertolucci, seit einem unglücklichen Sturz und einer erfolglosen Operation auf den Rollstuhl angewiesen, auf die riesengrosse Bühne geschoben, erhoben sich 1500 Zuschauer und huldigten dem Regisseur mit einer minutenlangen Standing Ovation. Bernardo Bertolucci ist noch immer eine der ganz grossen RegieIkonen Italiens, von vielen hoch geschätzt und verehrt. Nun hat er zum ersten Mal seit zehn Jahren, seit Dreamers, wieder einen Film gedreht, und zum ersten Mal seit dreissig Jahren, seit La tragedia di un uomo ridicolo, wieder einen Film auf Italienisch. Für den Zweiundsiebzigjährigen hat sich das Filmemachen natürlich verändert: «Seated rather than standing», so Bertolucci lakonisch. In dem Moment, wo er seine Situation akzeptierte, wusste er auch, dass er wieder Filme machen würde – mit anderer Perspektive, unter anderen Bedingungen. Und vielleicht ist es so zu erklären, dass er die Novelle «Io e te» von Niccolò Ammaniti adaptierte, die fast ausschliesslich an einem Ort spielt, so wie schon Stealing Beauty, Besieged und Dreamers sehr zurückgenommen waren in ihren inszenatorischen Möglichkeiten. Bertolucci verschob die Klaustrophobie eines kleinen, vollgestopften Kellers in eine Art «Klaustrophilie», wie er es selbst nennt, in die «Liebe zur Beschränkung in einem geschlossenen Raum».

Im Mittelpunkt: ein vierzehnjähriger Schüler namens Lorenzo. Als wir ihn zum ersten Mal sehen, sitzt er beim Psychiater, dem er nur widerwillig antwortet. Mit seiner zerwühlten Haarpracht sieht er aus wie Robert Smith von «The Cure», seine markanten Gesichtszüge erinnern an den jungen Malcolm McDowell aus Kubricks A Clockwork Orange – Querverweise, die auf die Pole des Charakters, Melancholie und Aggressivität, schliessen lassen. Doch Lorenzo ist kein Alex, der mit Gewalt seine Bedürfnisse durchsetzt. Lorenzo frisst alles in sich hinein, fühlt sich zurückgewiesen, von seinen Mitschülern, den Lehrern, den Erwachsenen. Nicht einmal von seiner jungen, attraktiven Mutter Arianna glaubt er sich geliebt. Einmal geht er mit ihr in ein Restaurant und bringt sie mit einer hypothetischen Frage in Verlegenheit: Ob die anderen Gäste sie wohl für ein Paar halten würden. Ob sie mit ihm Sex haben würde, wenn sie nach einer Katastrophe die letzten Lebewesen auf der Erde seien und der Fortbestand der Menschheit von ihnen abhinge. Das sind, zumindest auf der sprachlichen Ebene, deutliche Anklänge an Bertoluccis La luna von 1979, in dem Mutter und Sohn sogar Sex miteinander haben. Doch Bertolucci erlaubt hier keinen Inzest, wie es Louis Malle in Le souffle au cœur getan hat. Und auch die unterschwellige Gewalt, die von Lorenzos nervöser Anspannung ausgeht, beschränkt sich auf einen unkontrollierten Wutausbruch, als ihn seine Mutter mit dem Auto nicht an der gewünschten Stelle absetzen will.

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Doch dann schlägt der Film eine andere Richtung ein. Lorenzo soll in wenigen Tagen mit der Schule in einen einwöchigen Skiurlaub fahren. Stattdessen versteckt er sich, versorgt mit Konservendosen und Tetraflaschen, im Keller. Ein unter Glas geschütztes Ameisennest, in einem Zoogeschäft erworben, sorgt für Gesellschaft. Und so richtet sich Lorenzo ein, bereitet Mahlzeiten, entsorgt den Müll. Wenige Szenen, die deutlich machen: Lorenzo ist kein Rebell, sondern ein Bub, der wenigstens für eine Woche eine Auszeit braucht, um zur Besinnung zu kommen. Doch seine mühsam geplante kleine Flucht ist gefährdet, als seine fünfundzwanzigjährige Halbschwester Olivia, die er kaum kennt, mitten in der Nacht im Keller nach ihren Habseligkeiten sucht. Schnell wird ihm klar, dass die drogensüchtige junge Frau seine Hilfe braucht.

Eine Geschwisterbeziehung, die mit ihren inzestuösen Anspielungen eine Schneise schlägt zu Dreamers, in dem sich Bruder und Schwester mit einem Amerikaner im Paris des Jahres 1968 zu einer Menage à trois verbanden. So wie dort die Unruhen auf den Strassen kaum eine Rolle spielten, hat auch Io e te etwas Hermetisches. Ein Kammerspiel, das gar nicht über sich hinausweisen will und sich ganz auf die hervorragenden Leistungen seiner beiden Hauptdarsteller – besonders der erst vierzehnjährige Jacopo Olmo Antinori überzeugt durch seine Direktheit und Natürlichkeit – konzentriert. Wenn man überhaupt etwas über Italien erfahren will, muss man schon genau hinschauen, auf eine Mussolini-Büste im Hintergrund etwa oder auf eine faschistische Uniform im Schrank. Das Gerümpel des Kellers, in dem früher Wertvolles und Bewahrenswertes nun vergessen und überflüssig ist, mag als Metapher des Zustandes eines Landes gelten, das im Chaos versinkt. Doch sicher ist das nicht, zumal die Italiener einen ganz eigenen, nicht nachahmbaren Umgang mit dem Chaos haben. Bertolucci nutzt geschickt die Enge und Beschränktheit des Kellers, in dem er die suchende Kamera immer neue Kadrierungen einfangen lässt und so die innere Spannung aufrechterhält. Dazu gehört auch ein bewusst offenes Ende, das die Schicksale der Figuren der Phantasie des Zuschauers überlässt. Ob Olivia wirklich mit dem Drogenkonsum aufhört, so wie sie es ihrem Bruder verspricht, scheint zweifelhaft. Und dann endet der Film mit einem eingefrorenen Bild von Lorenzo, so wie schon Truffauts Les 400 coups mit einem freeze frame von Antoine Doinel geendet hatte. Eine Chiffre der Freiheit, doch wie es mit Lorenzo weitergeht, wissen wir nicht.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 7/2013 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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