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All is lost 01

All Is Lost

Es gibt wohl nur wenige Situationen, sei es im Kino, sei es im Leben, die so grosse Angst auslösen wie die Handlungsprämisse von All Is Lost: ein alter Mann allein auf einem schiffbrüchigen Segelboot, mitten im Indischen Ozean, ohne Kontakt zur Aussenwelt, ohne Aussicht auf Hilfe, ohne Land in Sicht, unter sich kilometertief nur Wasser, hilflos der Natur mit Sturm und tosender See ausgeliefert.

Text: Michael Ranze / 16. Dez. 2013

Es gibt wohl nur wenige Situationen, sei es im Kino, sei es im Leben, die so grosse Angst auslösen wie die Handlungsprämisse von All Is Lost: ein alter Mann allein auf einem schiffbrüchigen Segelboot, mitten im Indischen Ozean, ohne Kontakt zur Aussenwelt, ohne Aussicht auf Hilfe, ohne Land in Sicht, unter sich kilometertief nur Wasser, hilflos der Natur mit Sturm und tosender See ausgeliefert. Eine Ahnung von der Existenzangst und der Verzweiflung, die den Helden des Films heimsuchen, lieferte zuletzt Alfonso Cuarón mit Gravity, auch wenn Sandra Bullock als Astronautin, lost in space, buchstäblich eine Wiedergeburt erlebt, oder Robert Zemeckis mit Cast Away, der allerdings immer einen möglichen Ausweg vorzeichnete. Dass ausgerechnet J. C. Chandor, der mit Margin Call einen Ensemblefilm mit präzisen Dialogen über den Zusammenbruch der Finanzwelt gedreht hat, nun ein Einmanndrama mit gerade drei Worten – «God», «Fuck» und «Help» – übers nackte Überleben vorlegt, verwundert zunächst. Von den Männern des Wortes zu jenem der Tat, von der abstrakten Katastrophe zur konkreten, von den engen, höchstens durch Fensterglas in die Tiefe geöffneten Räumen zur unerschlossenen Weite des Ozeans – Chandor wollte diesmal offensichtlich etwas ganz anderes, etwas diametral Entgegengesetztes machen, in allen Belangen.

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Was Robert Redford, zuletzt unter eigener Regie mit The Company You Keep in den Kinos, in seinem neuen Film zustösst, ist mit Pech nur unzureichend umschrieben. Sein namenloser Held, der im Abspann lakonisch als «Our Man» bezeichnet wird, so als würde eine unsichtbare Macht über ihn wachen oder ihn zur Marionette degradieren, gerät in eine Katastrophe, die ebenso zwingend wie unbarmherzig ihren Lauf nimmt. Nach einem kurzen Prolog, über den an dieser Stelle nicht mehr verraten werden soll, weil er einen versteckten Hinweis auf das Ende erlaubt, wirft J. C. Chandor den Zuschauer mitten hinein in das Trauma, das der Titel bereits andeutet. Our Man segelt mit seiner Yacht Virginia Jean über den Indischen Ozean. Plötzlich kracht ein Container, den ein vorbeifahrender Frachter verloren haben muss, in das Segelboot und schlägt ein grosses Loch in die Aussenwand, durch das unaufhörlich Wasser eindringt. Mit einem schweren Anker verlagert Our Man zunächst das Gewicht der Virginia Jean, um sie so vom Container zu lösen. Dann macht sich der erfahrene Segler ruhig und umsichtig daran, mit Krepp und Fiberglaskleister das Leck zumindest provisorisch zu verputzen. Später pumpt er mit der Hand mehrere Hundert Liter Wasser ab. Die Navigationshilfen und das Funkgerät sind allerdings zerstört – unmöglich, ein SOS zu verschicken, unmöglich, den Wetterbericht zu verfolgen. Und so segelt Our Man unwissentlich in einen Sturm, der ihm noch einmal alles abverlangt an Courage, Tüchtigkeit und überlegtem Handeln. Dem Ansturm aus Wind, Regen und Wellen ist die Virginia Jean nicht mehr gewachsen, das Loch reisst wieder auf, und so ist Our Man gezwungen, das Segelschiff zu verlassen und – nur mit dem Nötigsten versehen – ins Rettungsboot zu wechseln. So treibt er langsam auf eine belebte Handelsschiffsroute zu. Irgendein Tanker, irgendein Containerschiff muss ihn doch entdecken! Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.

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Trotz der Beschränkungen, die sich Chandor als Drehbuchautor selbst auferlegt hat, bezüglich der wenigen Drehorte, bezüglich der begrenzten Handlungsmöglichkeiten der Hauptfigur, hat er ein ungemein spannendes Drama inszeniert, das – vielleicht im Sinne Herman Melvilles – von der Herausforderung des modernen Menschen handelt, sich in einem archaisch anmutenden Konflikt mit der Natur zu behaupten. Der Mensch kann nicht alles beherrschen, und die ganze Tragik des Seglers liegt darin, dass ihn keine Schuld trifft. Nicht einmal einen Fehler kann man ihm vorwerfen. Robert Redford spielt Our Man als erfahrenen Seemann, der für jedes Problem eine Lösung weiss, sie mit geschickten Händen umsetzt, nie die Geduld verliert und schon gar nicht in Panik gerät. Einzig beim Untergang der Virginia Jean leistete er sich einen Blick, der Trauer und Bedauern offenbart. Weder erfahren wir seine Vorgeschichte noch seine Beweggründe. Das war anders in Cast Away, wo Tom Hanks durch Selbstgespräche sein Innenleben nach aussen kehrte und der Beginn des Films seinen familiären und beruflichen Hintergrund beleuchtete, oder in Gravity, wo Sandra Bullock ihre Wunden auf der Seele im Gespräch mit einem Gegenüber beichtete. Redfords Charakter definiert sich einzig durch seine Handlungen. Mit einer einfachen Konstruktion kondensiert er Trinkwasser, mit Hilfe eines Buches lernt er, nach den Sternen zu navigieren und seinen Standort zu bestimmen – unspektakuläre Tätigkeiten, die Chandor sachlich, fast dokumentarisch einfängt. Erst durch die intensive, konzentrierte Darstellung Redfords, dessen Starruhm zusätzlich zur Identifikation einlädt, werden sie zu spannenden Ereignissen. Der Zuschauer wird so zum beobachtenden Komplizen, und das macht die Vergeblichkeit der Bemühungen noch grausamer.

Einmal, im wohl beklemmendsten Moment des Films, fährt ein riesengrosser Frachter im Dunkeln der Nacht achtlos an dem Schiffbrüchigen vorüber. «Help!», ruft er, doch niemand hört ihn. Our Man wird sich plötzlich seiner Winzigkeit und Verlorenheit bewusst, seiner existenziellen Not, er fällt «in eine emotionale und spirituelle Isolation, in der physisches Überleben keine Option mehr ist». (Franz Everschor) Eine Erkenntnis, die auch den Zuschauer mit Wucht trifft.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 8/2013 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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