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Ginger & Rosa

Ginger & Rosa – die Schlichtheit des Filmtitels verschleiert ein wenig das Besondere dieser Beziehung. Ginger und Rosa sind nicht nur beste Freundinnen, sie sind auch am selben Tag geboren, und zwar 1945, im Jahr des Atombombenabwurfs auf Hiroshima. Jetzt, siebzehn Jahre später, im London des Jahres 1962, kommt diesem Hinweis eine besondere Bedeutung zu.

Text: Michael Ranze / 13. Mär. 2013

Ginger & Rosa – die Schlichtheit des Filmtitels verschleiert ein wenig das Besondere dieser Beziehung. Ginger und Rosa sind nicht nur beste Freundinnen, sie sind auch am selben Tag geboren, und zwar 1945, im Jahr des Atombombenabwurfs auf Hiroshima. Jetzt, siebzehn Jahre später, im London des Jahres 1962, kommt diesem Hinweis eine besondere Bedeutung zu: Die Kubakrise ist auf dem Höhepunkt, und Ginger, mit ihren blauen Augen und den roten Haaren ebenso schön wie intelligent, ist gern bereit, die Sorgen der Welt auf sich zu nehmen. Rosa ist da anders, nicht nur äusserlich mit ihren dunklen Haaren, sie ist unbekümmerter und, was den Sex angeht, neugieriger. Trotz der Unterschiede verbringen Ginger und Rosa sehr viel Zeit miteinander. Sie rauchen gemeinsam ihre erste Zigarette, lassen sich von Jungs im Auto mitnehmen, und dann kommt jene Szene, in der Rosa an einer Bushaltestelle mit einem Jungen knutscht, während Ginger gelangweilt daneben sitzt. Ein erster Hinweis, dass sich schon bald etwas ändern soll in ihrem Verhältnis zueinander.

Ginger engagiert sich lieber in der «Youth Campaign for Nuclear Disarmament», es ist die Zeit von Bertrand Russell und seinem Engagement gegen Atomwaffen, von Friedensmärschen und politischen Diskussionen. «That’s my girl. You’re an activist», sagt Gingers Vater Roland, der als Schriftsteller und Philosoph besonders sensibel auf die Kubakrise reagiert. Gleichzeitig gefällt er sich aber auch in der Pose des eloquenten Bohemiens, der auf bürgerliche Werte und Behaglichkeit pfeift. So ist es für ihn nur folgerichtig, dass er seine Frau Nat verlässt und von zu Hause auszieht. Folge: Ginger und Rosa verbringen immer häufiger die Wochenenden auf Rolands Segelyacht, und nun steuert der neue Film von Sally Potter – ihr letzter Film Rage (2009) fand kaum Beachtung – auf seinen zentralen Konflikt zu: Eines Nachts muss Ginger mitanhören, wie Rosa mit ihrem Vater schläft. Für Ginger ein unverzeihlicher Verrat an ihrer Freundschaft. Doch vielleicht schockiert sie auch nur, dass Rosa (übrigens dargestellt von Potters Tochter Alice Englert) ihre Bedürfnisse lebt – ohne Ginger an ihrer Seite. Die sucht Trost und Orientierung bei Freunden der Familie, zum Beispiel bei Timothy Spall und Oliver Platt als schwulem Paar. «Can’t you be a girl for a moment or two longer?», fragt sie einer der beiden, und man ahnt, dass es dafür zu spät ist: Ginger ist über Nacht erwachsen geworden.

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Ginger & Rosa erscheint wie ein Gegenstück zu Lone Scherfigs An Education, in dem ebenfalls ein junges Mädchen in London Anfang der sechziger Jahre ihr Coming-of-Age erlebte. Doch während Jenny, so ihr Name, vor allem von Erfolg und Glamour, von Mode und Kultur und natürlich von der Liebe träumte, geht es in Sally Potters Film um politisches Bewusstsein, die Ängste, die globale Krisen auslösen (und damit immer noch brandaktuell sind), aber auch um moralische Scheinheiligkeit, die sich vor allem an der Figur des Roland festmachen lässt. Roland trägt seine radikalen Ansichten wie einen Bauchladen vor sich her, um dann privat etwas ganz anderes zu leben. Er glaubt, sich über gesellschaftliche Regeln hinwegsetzen zu können. «Welches Recht habt ihr, über mich zu urteilen?», fragt er erbost, als Freunde und Bekannte ihn zur Rechenschaft ziehen.

Sally Potter macht es dem Zuschauer nicht leicht. Ihr ist nicht daran gelegen, dass man sich in den Film fallen und von der Erzählung tragen lässt. In vignettenhaften Impressionen verfolgt sie Gingers Adoleszenz und zeigt sich so beeinflusst von der Nouvelle Vague, vielleicht sogar vom Free Cinema. Nicht jede Episode ist zu Ende erzählt, einiges bleibt elliptisch ausgespart, sodass der Zuschauer sie selbst mit Inhalt füllen muss. Das ist manchmal frustrierend, weil man sich über das Gemeinte nicht sicher ist, und manchmal anregend, weil Potter den Zuschauer zum Komplizen ihrer Erzählhaltung macht. Die Kamera von Robbie Ryan, den man von seiner Arbeit für Andrea Arnold (Fish Tank) und Ken Loach (The Angels’ Share) kennt, rückt dabei den Charakteren sehr nahe – fast so, als wolle sie in sie hineinschauen. Wie schon Lone Scherfig legt auch Sally Potter grossen Wert darauf, das kulturelle Klima der sechziger Jahre lebendig werden zu lassen und bezüglich Ausstattung und Kostüm jedem Detail nachzuspüren. Eine besondere Bedeutung kommt dabei der Musik zu, nicht etwa Beatles oder Rolling Stones, wie man vielleicht meinen könnte, sondern vor allem dem Jazz von Thelonius Monk, Dave Brubeck und Miles Davis. Somit verortet Potter den Film zusätzlich im Milieu des politisch bewussten Bildungsbürgertums.

Interessant: Sally Potter hat für ihren englischen Film zahlreiche amerikanische Schauspieler verpflichtet, was dem Film ein zusätzliches Spannungsfeld verleiht. Alessandro Nivola spielt Roland in einer Mischung aus intellektuellem Softie und rücksichtslosem Macho. Annette Bening ist eine amerikanische, nicht auf den Mund gefallene Feministin und mit ihrer schnippischen Art die wohl komischste Figur des Films. Christina Hendricks, die kurvenreiche, toughe und lebenskluge Sekretärin aus Mad Men, verkörpert – in Abkehrung ihres Images als Sexbombe – Rolands Ehefrau Nat, die plötzlich, nicht zuletzt wegen ihrer Unzufriedenheit, allein dasteht. Und dann natürlich Elle Fanning aus Tony Scotts Déjà Vu. Zur Drehzeit dreizehn Jahre alt, entfaltet sie hier eine erstaunliche Bandbreite. Wie am Schluss aus ihr die Emotionen hervorbrechen, weil Vater und beste Freundin sie betrogen haben, aber auch weil die Welt mit einem Schlag weggewischt werden könnte – das muss ihr erst einmal jemand nachmachen.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2013 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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