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Comandante 01

Il comandante e la cicogna

Ein breiteres Publikum kennt Silvio Soldini spätestens seit Pane e tulipani als warmherzigen Schilderer leicht verschrobener, doch durchaus plausibler Figuren. In Il comandante e la cicogna geht er noch einen Schritt weiter: Er verzichtet, der Zersplitterung des städtischen Alltags entsprechend, auf eine geschlossene Story, und wagt, in der besten Tradition der commedia all’italiana, burleske Überzeichnungen.

Text: Martin Girod / 02. Mär. 2013

Die Kamera zeigt uns zu Beginn von Silvio Soldinis Film die nächtliche Stadt Turin von oben. Es tagt, Statuen werden erkennbar, die das Stadtbild prägen: Verdi, Leopardi, Columbus, Garibaldi. Das städtische Leben hebt an: mit handfestem Streit um einen Parkplatz, einem Jungen, der ausprobiert, ob die Parkbank brennt, einem Kellner, der das vom Tablett gerutschte Croissant vom Boden aufliest und unbekümmert dem Gast serviert. Aus kleinen sketchartigen Szenen entsteht ein Bild allgemeiner Nervosität, Hektik und Überforderung. Die Statuen blicken unbewegt darüber hinweg – und beginnen desillusioniert das Gesehene zu kommentieren. Der erhöhte Platz, wird Garibaldi sagen, wäre ideal für den Überblick in einer Schlacht, doch hier schmerzt es ihn, tatenlos einer Gesellschaft zusehen zu müssen, der jeglicher Gemeinschafts- und Gerechtigkeitssinn abhandengekommen sei.

Aus der lockeren Szenenfolge kristallisieren sich wiederkehrende Figuren heraus: die Künstlerin Diana, die sich – wörtlich und im übertragenen Sinn – mit Vorliebe den Kopf einrennt; der dreizehnjährige Schüler Elia mit seinem ernsthaft-neugierigen, von der übergrossen Brille noch unterstrichenen staunenden Blick auf die Welt; sein Vater Leo, als alleinerziehender Witwer und selbständiger Handwerker permanent überfordert; ein mit Zitaten um sich werfendes, philosophierendes, doch seine Interessen energisch verteidigendes Faktotum und ein wendig-windiger, erfolgreicher Anwalt. Es entwickeln sich kleine Geschichten, anfänglich parallel, scheinbar unverbunden, dann sich begegnend und überkreuzend. Mit beschwingter Leichtigkeit puzzelt Silvio Soldini ein Kaleidoskop heutigen Grossstadtlebens zusammen, das uns in seinen grotesken Zuspitzungen erst lachen, dann nachdenklich werden lässt.

Ein breiteres Publikum kennt den schweizerisch-italienischen Doppelbürger Soldini spätestens seit Pane e tulipani als warmherzigen Schilderer leicht verschrobener, doch durchaus plausibler Figuren. In Il comandante e la cicogna geht er noch einen Schritt weiter: Er verzichtet, der Zersplitterung des städtischen Alltags entsprechend, auf eine geschlossene Story, er wagt, in der besten Tradition der commedia all’italiana, burleske Überzeichnungen und er führt mit den sprechenden Statuen eine spielerische Ebene distanzierter Kommentierung ein.

Neben die kleinen krummen Touren treten nach und nach grössere: der Supermarkt verkauft abgelaufene Lebensmittel; der Exboyfriend rächt sich an der ihn Verschmähenden, indem er ein sie kompromittierendes Sexvideo ins Internet stellt; die Spekulanten flüchten in den Bankrott; der Anwalt organisiert für seinen Klienten einen unbescholtenen Strohmann.

Comandante 02

Jeder schaut da für sich und den eigenen Vorteil, ohne sich an Spielregeln zu halten, die ja ohnehin kaum mehr jemand zu würdigen scheint. Es sind keine finsteren Bösewichte, denen wir da begegnen, sondern Menschen, deren Verhalten durchaus vertraut und nachvollziehbar ist: Sie versuchen nur, sich in einer aus den Fugen geratenen Gesellschaft irgendwie zu behaupten. Dem Gerissenen, der eine geschickte Ausrede auftischt oder in Ermangelung eines echten Zitats eines erfindet, gehört unsere Sympathie. Doch wird uns dabei auch bewusst, wie sehr ein Gemeinwesen letztlich in die Brüche geht, wenn jeder nur noch listiger sein muss als der andere. Die Personifizierung solch fataler Entwicklung sind die machthungrigen Scharlatane, deren – ganz zufällig an einen gewissen «Cavaliere» erinnernde – Wahlpropaganda sogar auf der Strassenbahn prangt.

Soldini führt uns dennoch keine Welt von Bösen und Guten vor. Seine Hauptfiguren stecken voll von sympathischem Enthusiasmus: Diana, die für ihre Kunst Entbehrung und Erniedrigung auf sich nimmt; Elia, der sich für ökologische Probleme interessiert und einen jungen Storch aufzieht; Leo, der seine beiden Kinder zu eigenständig-verantwortungsvollen Wesen erziehen möchte und deshalb bei jedem auftauchenden familiären Problem eine Sitzung einberuft. Doch alle lassen sich auf Kompromisse ein, schwimmen ein kleines Stückchen mit im Strom der Gerissenheit und bleiben dabei nicht unbeschädigt.

Wäre Soldinis Schilderung nur eine detailgenaue Momentaufnahme, fänden wir seinen Film wohl trivial. Wäre seine Kommentierung leitartikelhaft, empfänden wir ihn als moralisierend. Soldini aber gelingt es, diese Elemente zu einem märchenhaften Ganzen von beschwingter Musikalität zu verbinden. Kreisförmige Ausschnitte aus dem Stadtbild suggerieren schon im Vorspann einen Fernrohrblick auf die Realität, und immer wieder verwendet der Regisseur dieses Mittel, das Distanz schafft und zugleich unser Augenmerk auf das Wesentliche lenkt. Zusätzlich entrückt werden die Familienszenen durch das Auftauchen der verstorbenen Ehefrau und Mutter, die gelegentlich auf der Erde etwas Kaffeeduft schnuppern kommt. Auch der Storch befördert nicht nur die Erzählung, sondern fügt ihr ein poetisches Moment hinzu.

Die Statuen aber, sie sind es ihrem seriös-majestätischen Habitus schuldig, sich selbst ernst zu nehmen und tiefsinnige Kommentare von sich zu geben. So kann Soldini maliziös eine historische Ebene und kritische Betrachtungen in seinen Film einbringen, ohne selbst pompös zu werden: Verdi darf «o mia patria» singen und Garibaldi, der «Comandante» des Titels, sagen, dass er für eine «bessere Welt» gekämpft habe. Soldini lässt uns das als Teil eines wunderlichen Treibens wahrnehmen. Und erreicht damit, dass wir uns amüsiert-nachdenklich darüber wundern.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2013 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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