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Side Effects

Zuletzt hatte er das, was Spieler einen Lauf nennen. Acht Filme in nur vier Jahren hat er inszeniert. Aus Sicht seiner Geldgeber und Produzenten mag das zwar keine ungetrübte Glückssträhne gewesen sein – nur der Kassenerfolg von Magic Mike war für sie wohl eine reine Freude. Aber das kreative Niveau hielt er in all diesen Regiearbeiten staunenswert hoch.

Text: Pierre Lachat / 24. Apr. 2013

Zuletzt hatte er das, was Spieler einen Lauf nennen. Acht Filme in nur vier Jahren hat er inszeniert. Aus Sicht seiner Geldgeber und Produzenten mag das zwar keine ungetrübte Glückssträhne gewesen sein – nur der Kassenerfolg von Magic Mike war für sie wohl eine reine Freude. Aber das kreative Niveau hielt er in all diesen Regiearbeiten staunenswert hoch. Wenn es nach ihm geht, sollen sie nun als sein Spätwerk in die Filmgeschichte eingehen. Er hat mit dem Kino abgeschlossen. Tat er es aus Furcht, das Glück könnte ihn demnächst verlassen?

Seinen Entschluss, mit Anfang fünfzig vom Filmgeschäft abzudanken, darf man Steven Soderbergh getrost als Hochmut auslegen. Ingmar Bergman immerhin hat ihn erst im landläufigen Pensionsalter getroffen. Was mag jemand wie Manoel de Oliveira, dessen Regiekarriere richtig an Fahrt aufnahm, als er bereits ein best ager war, über einen solch frühen Abschied denken? Soderbergh hat ihn letzthin oft angekündigt (erstmals nach der lauen Aufnahme, die sein intimistisch-monumentales Che-Diptychon fand) und hält allem Anschein nach nun Wort. Side Effects soll der Abschluss einer Regiekarriere sein, die mehr als sein halbes bisheriges Leben andauerte und sechsundzwanzig Langfilme hervorbrachte. Aber ebenso wenig wie seine prächtigen Genrearbeiten Contagion oder Haywire (zumal er dort ein neues Thema fand, die Globalisierung, die die Schauplätze beinahe austauschbar werden lässt) liefert er Anlass, einen drohenden schöpferischen Niedergang zu erwarten.

Seine Gründe hat er in Interviews oft dargelegt. Er habe das Gefühl, auf der Stelle zu treten. Aus seiner Entzauberung über den Wandel des amerikanischen Filmgeschäfts, in dem die Blockbustermentalität ein Kino des künstlerischen Eigensinns sowie der ästhetischen und ökonomischen Mittellage zusehends verdrängt, hat er kein Hehl gemacht. Auch die Verwerfungen des Zuschauerverhaltens, die Verkürzung der Aufmerksamkeitsspanne und das zunehmende Desinteresse an Ambivalenz und Zwischentönen, muss ihn desillusioniert haben. Von diesen Umbrüchen hat er freilich selbst oft genug profitiert und ihnen in seiner Art des Filmemachens geschmeidig Rechnung getragen. Seine Karriere beruhte immer auf der Mischkalkulation: Ein Film der Ocean-Serie alimentierte sperrige Arbeiten wie Solaris. Und Soderbergh war bis zuletzt ein Regisseur, der das Vertrauen der Studios genoss, einer, der Projekte auf die Bahn bringen konnte. Side Effects ist ein solcher Fall. Eigentlich hätte ihn der Drehbuchautor Scott Z. Burns gern selbst inszeniert, grünes Licht gab es jedoch erst, als Soderbergh ankündigte, die Regie übernehmen zu wollen.

Technischen Neuerungen und ästhetischen Herausforderungen gegenüber war er stets aufgeschlossen. Er begriff rasch, dass Mainstreamfilme, selbst Thriller wie Out of Sight, nicht zwangsläufig linear erzählt werden müssen. Früher als andere Hollywoodregisseure entdeckte er das Potential von DVD-Audiokommentaren und schöpfte es aus: als ein Medium der Vermittlung, das dem Studium an einer Filmhochschule gleichkommen könnte. Er hat das Aufkommen digitaler Techniken emphatisch begrüsst; seit langer Zeit fungierte er ja unter Pseudonym als sein eigener Kameramann und Cutter. Da mutet es nur konsequent an, wenn er zu neuen Horizonten aufbricht. Fortan will er sich stärker der Malerei widmen, sich dem Theater zuwenden und bestimmt auch dem Hochqualitätsfernsehen à la HBO, wo er für seine Liberace-Biografie Behind the Candelabra erstmals Zuflucht suchte. Aber hielte das Kino nicht doch neue Erzählformen und Grammatiken bereit, die er noch meistern müsste?

Side Effects demonstriert noch einmal, wie gut er das kann. Die klinische Sterilität der Digitalfotografie steht dem Psychothriller gut zu Gesicht. Die Eröffnungsszene, in der der Blick des Zuschauers einer Blutspur durch eine Wohnung bis zu einer Leiche folgt, zeigt, wie behende die Montage durch die neuen Techniken werden kann. Die Intrige um eine depressive Patientin, ihre Psychiater und die Nebenwirkungen eines neuen Medikaments straft Soderberghs Bekenntnis Lügen, er habe es satt, sich der Tyrannei des Narrativen zu unterwerfen. Der Plot ist eine Kaskade der überraschenden Wendungen und raffinierten Täuschungsmanöver. Soderbergh erweist sich hier natürlich als ein gelehriger Schüler Hitchcocks, wenn auch in zweiter Generation. Manchmal mutet Side Effects wie die entschieden unhysterische Version eines Brian-de-Palma-Thrillers an. Der Regisseur absolviert ihn mit grosser, verhoffter Verve. Nicht von ungefähr endet er mit einem Bild des Gefangenseins, aus dem man um jeden Preis befreit werden möchte.

Der leichte Touch

Soderbergh hatte schon mal einen solchen Lauf, wenn auch nicht mit dieser rasanten Schlagzahl. Die Jahre zwischen 1997 und 2001, in denen Out of Sight, The Limey, Erin Brockovich, Traffic und Ocean’s Eleven entstanden, markieren einen Höhepunkt seiner Karriere, der sich meist auch für die Produzenten rechnete. Zu diesem Zeitpunkt hatte er das Bild vom Protagonisten des amerikanischen Independent-Kinos, zu dem er mit Sex, Lies, and Videotape kaum ein Jahrzehnt zuvor geworden war, schon mehrfach revidiert. Nun drehte er unabhängige Filme im Kontext der Hollywoodmajors.

Dass der Regisseur immer seltener im Vorspann seiner Filme als sein eigener Drehbuchautor auftauchte, wurde ein entscheidendes Merkmal des Systems Soderbergh. Vielleicht hegte er schon lange die Sehnsucht, vom Status des auteur entlastet zu werden. In Interviews betonte er regelmässig, welchen Wert er darauf legt, mit Szenaristen zu arbeiten, die über eine eigenständige, unverwechselbare Handschrift verfügen: Lem Dobbs (Kafka, The Limey, Haywire), Stephen Gaghan (Traffic), Paul Attanasio (The Good German) oder Scott Z. Burns (Contagion). Das grösste Rätsel, das er seither den Betrachtern aufgab, liegt in der Frage, was ihn jeweils an einem Stoff reizte. Er schien jeden Film gegen den vorangegangenen zu drehen. Der zweite Teil seines Che-Diptychons beispielsweise definierte sich nachdrücklich in der Differenz zum ersten (dem er indes eng in einer durchaus verborgenen Symmetrie verbunden ist). Bild- und Handlungsspielraum sind begrenzter, das Cinemascope hat dem Breitwandformat 1:1,85 Platz gemacht, die verhaltene Klangfülle von Alberto Iglesias’ Partitur ist vertraulicheren Gitarrenklängen gewichen.

So erscheint Soderbergh mitunter wie die moderne Inkarnation eines Studioregisseurs, der agil zwischen unterschiedlichen Stoffen navigiert und dessen Handschrift federleicht ist. Er lieferte selbstbewusste Etüden in einer Vielzahl von Genres ab. (Einen Western hat der Ostküstenintellektuelle seinem Publikum wohlweislich erspart.) Sein Erzählinteresse erfüllte sich in der Variation, dem Überdenken bewährter Muster. Kein anderer US-Regisseur seines Rangs hat derart viele Remakes gedreht; die gescheiterte Kinoversion der TV-Serie The Man from U.N.C.L.E wäre gewiss auch nicht unter seinem Niveau ausgefallen.

Lust an der Verschlankung

In dem gemeinsamen Audiokommentar von Soderbergh und Lem Dobbs zu The Limey gibt sich der Drehbuchautor angriffslustig. Er hält dem Regisseur vor, auf erzählerische Logik mehr Wert zu legen als auf psychologische. Insgeheim unterstellt er ihm, er würde den Stil der Substanz vorziehen. Sein enormes Arbeitstempo und seine handwerkliche Gelenkigkeit lassen tatsächlich zunächst nicht auf eine tiefe Versenkung in die Stoffe oder Anteilnahme am Schicksal der Figuren schliessen. Vielleicht ist ja Che Guevara, so wie ihn Soderbergh und Benicio del Toro zeichnen, ein heimliches Alter Ego des Regisseurs: ein Meister der Konzentration, der besonnen seine ganze Aufmerksamkeit der je nächsten Aufgabe widmet, die zu bewältigen ist. Mithin sagt der Umstand, dass diese stets befristet ist, noch nichts über das Ausmass seines erzählerischen Engagements aus. Einige seiner Projekte, darunter The Good German, Che und The Informant!, hat er lange Zeit gehegt und beharrlich verfolgt.

Der Regisseur von Sex, Lies, and Videotape sollte sich gleichwohl im Verlauf seiner weiteren Karriere als ein pragmatischer Erzähler erweisen, für den das Studium menschlicher Beziehungen nur ein Register unter vielen ist, die er zieht. Schon in seinem Langfilmdebüt zeigte er sich nicht als Romantiker. Vielmehr herrscht eine kühle, abgeklärte Sicht auf die Geschlechterverhältnisse. Die Liebe ist ein System, das es zu erforschen gilt. In Magic Mike kehrt dieser unsentimentale Blick wieder. Erotik ist in der Welt männlicher Stripper vor allem Simulation. Die Titelfigur ist ein bemerkenswert uneigentlicher Charakter, der in seinen Dialogen fast opportunistisch die Übereinkunft sucht, sich in Gemeinplätze und Ironie flüchtet. Erst spät lernt er, für sich selbst einzustehen, indem er zu der Geliebten sagt: «I’m not my lifestyle.» Von dieser kühl flimmernden Sicht auf Charaktere und Verhältnisse profitiert auch Side Effects, wo jede Figur zur Disposition steht, sich als ein anderer entpuppen kann. Keine von ihnen ist moralisch unbefleckt, keine verdient unser unbedingtes Vertrauen. Die Depression der Heldin wird nicht über Gebühr ausgebreitet; das könnte die Zuschauer ja abschrecken.

Die Leidenschaft des Filmemachers entzündete sich nicht an seinen Figuren. Vielmehr scheint seine Lust unbändig, sich stets neuen technischen und erzählerischen Herausforderungen zu stellen und dabei weitere Facetten der Virtuosität offenbaren zu wollen. Das tat er, nicht ohne mit dem Hastigen, Vorläufigen seiner Methode zu kokettieren. Im Audiokommentar zu Erin Brockovich bekennt er, immer weniger an Perfektion interessiert zu sein. Die Verweigerung des Definitiven ist ein Wesenszug seines Werks. Den Vorwurf des Ausschnitthaften, den Che nach seiner Premiere in Cannes häufig auf sich zog – nicht einmal als Zweiteiler mit einer Länge von über vier Stunden erfüllt er den Wunsch nach einem biografischen Gesamtbild –, wird er ruhig ausgehalten haben. Seither sind seine Filme übrigens rigoros schlanker geworden. Kaum einer dauert länger als hundert Minuten; nicht einmal der aufwendige Pandemie-Thriller Contagion, dessen vielfältige, komplexe Handlungsstränge ein anderer Regisseur nicht unter zweieinhalb Stunden verknüpft hätte. Vielleicht wollte Soderbergh einfach schnell mit ihm fertig werden.

Bolivien ist nicht das Ende

Der zweite Teil von Che, Guerilla, erzählt davon, wie es nach einer Demission weitergehen kann. Er setzt ein, nachdem Guevara als kubanischer Minister abgedankt hat und auf Ruhm und Annehmlichkeiten verzichtete, um seine Arbeit fortzusetzen, die Revolution über die Grenzen der Insel hinaus weiter nach Lateinamerika zu tragen. Mit falschen Papieren und verändertem Aussehen, das selbst seine Kinder täuscht, reist er nach Bolivien, um dort im Geheimen eine Rebellenarmee zu trainieren. Benicio del Toro atmet schwerer im zweiten Teil, aber müder ist er nicht geworden. Ches Truppe ist isoliert, die kommunistische Partei Boliviens und auch die Bauern versagen ihm ihre Unterstützung. Die Euphorie des ersten Teils Revolución ist vergangen, diesmal wirkt der Zauber nicht mehr. Del Toros Che ist jedoch emphatisch präsent im zweiten Teil, wo er kein Darsteller auf der Bühne der Weltpolitik mehr sein muss. Ans Aufhören denkt er nicht. Wer weiss, ob sein Regisseur, in dessen Karriere die Vorläufigkeit eine so grosse Rolle spielte, nicht doch eines Tages seinem Beispiel wieder folgt?

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2013 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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