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Childs pose 01

Child’s Pose

Schon die erste Szene macht das ganze Dilemma des Films exemplarisch deutlich. Da beklagt sich eine Frau kurz vor ihrem sechzigsten Geburtstag voll Bitterkeit über ihren Sohn. Nie würde er sich melden, erst kürzlich habe man sich nach über zwei Monaten endlich mal wieder getroffen, doch sofort sei es zum Streit gekommen.

Text: Michael Ranze / 12. Juni 2013

Schon die erste Szene macht das ganze Dilemma des Films exemplarisch deutlich. Da beklagt sich eine Frau kurz vor ihrem sechzigsten Geburtstag voll Bitterkeit über ihren Sohn. Nie würde er sich melden, erst kürzlich habe man sich nach über zwei Monaten endlich mal wieder getroffen, doch sofort sei es zum Streit gekommen, er habe ihr sogar ein ruppiges Schimpfwort an den Kopf geworfen. Wahrscheinlich werde er nicht einmal zur Geburtstagsfeier kommen.

Der rumänische Regisseur Calin Peter Netzer, bekannt geworden mit Maria (2003) und Medal of Honor (Medalia de onoare, 2009), beleuchtet in seinem neuen Film vor dem Hintergrund der brisanten politischen und sozialen Verhältnisse in Rumänien eine fast neurotische Mutter-Sohn-Beziehung, in der eine Frau ihr einziges Kind mit ihrer Liebe erstickt und es wie eine Glucke zu beschützen sucht. «Helikopter-Mütter» heissen diese Frauen heute, weil sie ihren Nachwuchs wie ein Hubschrauber umkreisen und jeden Schritt planen und organisieren. Dass sie dabei ihre Kinder zur Lebensuntüchtigkeit erziehen, ist ihnen nicht bewusst. «Aus Furcht, der Tod könnte uns das Kind entreissen, entziehen wir es dem Leben. Um seinen Tod zu verhindern, lassen wir es nicht richtig leben», hat der polnische Pädagoge Janusz Korczak einmal gesagt. Dass Netzer sich in den Produktionsnotizen auf seine eigene Mutter beruft, macht Child’s Pose zu einem sehr persönlichen Film.

Cornelia, jene Frau, von der zu Beginn die Rede war, arbeitet als Architektin. Sie gehört zur Oberschicht Bukarests und gibt gern damit an: teurer Pelzmantel, glitzernder Schmuck, elegante Schuhe. Von ihrem Mann, einem angesehenen Chirurgen, hat sie sich längst entfremdet, und so konzentrieren sich ihre ganze Liebe und Aufmerksamkeit, quasi als Ersatz, auf ihren einzigen Sohn Barbu. Der ist allerdings schon fünfunddreissig Jahre alt und wehrt sich gegen die Ansprüche seiner Mutter mit Distanz und Unfreundlichkeit. Kein Zweifel: Dieser fragilen und problematischen Beziehung haftet etwas Pathologisches an, etwas Anormales, das schon bald eskalieren könnte. Eine spürbare Spannung legt sich so über den Film. Und dann passierts: Barbu hat bei einem riskanten Überholmanöver mit dem Auto einen Jungen überfahren und getötet. Cornelia macht sich, begleitet von ihrer Freundin, sofort auf zur Polizeistation, schon im Auto die ersten Telefonate, bei denen sie ihre Beziehungen zu Ärzten und Anwälten sowie Vorgesetzten bei Polizei und Justiz spielen lässt. Dass ihr Sohn einen fatalen Fehler gemacht haben könnte, für den er nun zur Rechenschaft gezogen wird, kommt ihr nie in den Sinn. Cornelia will Barbu mit allen Mitteln vor dem Unheil schützen, das auf ihn zukommt. Sie ist bei der Vernehmung ihres Sohnes dabei, gibt ihm Antworten vor, begleitet ihn zur ärztlichen Untersuchung, entwendet Beweismaterial aus dem Unfallauto und will alles über den Gutachter wissen. Die Kamera verfolgt sie dabei in langen, freischwebenden Einstellungen mit agilen, fast schon unkontrollierten Bewegungen – so als habe sie Mühe, diese entschlossene Frau einzufangen, so als würde Cornelias innere Unruhe auch die Bilder anstecken. Als ein Polizist ihren Beruf erfährt und um Hilfe bei Problemen mit einer Baugenehmigung bittet, nickt sie zustimmend. Sie trifft sich sogar mit dem Fahrer des überholten Wagens, dem einzigen Augenzeugen, um ihn zur Änderung seiner Aussage zu überreden. Luminita Gheorghiu, die mit Netzer schon bei Maria zusammenarbeitete, spielt diese Frau eindrucksvoll und vielschichtig als Über-Mutter: selbstbewusst, fordernd, drohend, überheblich, aber auch immer unzufrieden und schnell bereit, Gründe für Entrüstung und Beleidigtsein zu finden. Nie sieht man sie lachen, stets hat ihr Gesichtsausdruck etwas Verhärmtes. Denn Cornelia hat einen grossen Gegner: Barbu selbst. Er fühlt sich im Schlepptau seiner überfürsorglichen Mutter sichtlich unwohl und verweigert sich ihrem Aktionismus mit gleichgültigem Phlegma.

Childs pose 02

In Child’s Pose, auf der diesjährigen Berlinale mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet, tun sich gleich mehrere Kluften auf: zwischen den Geschlechtern, zwischen den Generationen, zwischen den Klassen. Die Frauen sind zweifelsohne die Stärkeren in diesem Film, sie reissen die Männer aus ihrer Lethargie und Unentschiedenheit, bestimmen über ihren Kopf hinweg, sind mitunter von einer lieblosen Lebenstüchtigkeit. Ihr Helfersyndrom kaschiert allerdings nur mühsam ihre Versagungserlebnisse, ihre Macht hat etwas Pragmatisches, und nicht immer setzen sie sie weise ein. Das macht auch das Verhältnis zum Geld deutlich, das als Lösung für alle Probleme fast schon mythisch überhöht wird. Netzer schildert Rumänien, über zwanzig Jahre nach Ceausescu, als ein Land, in dem immer noch die Eliten herrschen, Geldumschläge heimlich den Besitzer wechseln, der Gegensatz zwischen Arm und Reich immer grösser wird und Institutionen wie Polizei und Justiz nicht zu trauen ist, weil sie für einen Gefallen ihre eigentliche Funktion vernachlässigen. Die Armut der Opferfamilie deutet er nur vage an, und doch ist sie evident. Geld soll auch hier die Schuld abtragen, Cornelia hat bereits die Beerdigung des Jungen bezahlt, quasi als Ablass, der die Sühne ersetzen soll. Das verleiht dem Film auch eine moralische Dimension, der – ausgehend vom privaten Einzelfall – auch gesellschaftliche Bedeutung zukommt. Wie Netzer seine Konflikte löst, die Emanzipation Barbus und eine Versöhnung mit den Eltern des getöteten Jungen andeutet, ist von grosser, emotionaler Kraft. Ein Handschlag, nur zu sehen im kleinen Rückspiegel eines Autos – mehr bedarf es nicht.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2013 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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