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Inconnu 01

L’inconnu du lac

Es ist Hochsommer. Der See liegt glitzernd im weissen Licht. Die Baumwipfel wiegen sich im Wind – und die Grillen erfüllen die Luft mit ihrem Zirpen. An diesem idyllischen Ort irgendwo im Süden Frankreichs treffen sich Männer für ein Bad im türkisen Wasser oder für Sex mit Gleichgesinnten im dahinter liegenden Wäldchen.

Text: Doris Senn / 25. Sep. 2013

Es ist Hochsommer. Der See liegt glitzernd im weissen Licht. Die Baumwipfel wiegen sich im Wind – und die Grillen erfüllen die Luft mit ihrem Zirpen. An diesem idyllischen Ort irgendwo im Süden Frankreichs treffen sich Männer für ein Bad im türkisen Wasser oder für Sex mit Gleichgesinnten im dahinter liegenden Wäldchen. So auch der sympathische und attraktive Franck – ein exzellenter Schwimmer und ein Habitué am kleinen Strand. Franck hat ein Auge geworfen auf Michel – einen athletischen Freddie-Mercury-Typ, der aber schon vergeben ist. Und er schliesst Freundschaft mit Henri, einem aus der Form geratenen Mittvierziger, der etwas abseits und ausser Konkurrenz fast täglich den Blick auf den See geniesst und seinen Liebeskummer zu vergessen sucht, hat ihn doch seine Freundin verlassen …

Was sich zuerst wie eine jener leichtfüssigen französischen Sommerkomödien anlässt, wandelt sich in L’inconnu du lac aber unmerklich zur Amour fou mit Thriller-Anklängen. Eines Abends – der Strand liegt verlassen – wird Franck heimlich Zeuge, wie Michel seinen jungen Lover ertränkt. War er seiner überdrüssig? Hatte jener ihn betrogen? War er zu anhänglich geworden? Die Gründe für die Tat bleiben im Dunkeln. Doch tut dies Francks Interesse an Michel keinen Abbruch, im Gegenteil. Sein Objekt der Begierde ist nun “frei” – und die beiden beginnen eine lustvolle Affäre, ohne dass Michel von Francks Mitwisserschaft wüsste. Dieser wiederum macht sich zu dessen Komplizen, verschweigt er doch gegenüber der Polizei, was er an jenem Abend gesehen hat. Doch das düstere Geheimnis überschattet zunehmend ihre Beziehung …

Der fünfzigjährige Regisseur Alain Guiraudie legt mit L’inconnu du lac seinen vierten Langfilm vor, für den er auch das Drehbuch geschrieben hat. Nach der Inspiration dafür befragt, meint Guiraudie, dass immer mehrere Geschichten und viel eigene Erfahrung in den Plots seiner Filme zusammenflössen: «Am Ursprung von L’inconnu du lac stand die Idee, einen Liebesfilm zu drehen – mit der Vorstellung, dass man in einer Beziehung auch Risiken eingeht, um neue Tiefen auszuloten. Dies, verbunden mit einem Verbrechen, das den Helden der Geschichte in eine Art Dilemma zwischen seinem Begehren und Fragen der Moral versetzt. Im Zentrum standen dabei der “Badeunfall” und der homosexuelle Cruising-Spot – ein eigenwilliger Mikrokosmos, den ich auf die grosse Leinwand bringen wollte. Zwar war mein Film zu Beginn keinesfalls als Thriller gedacht, und doch sollte er Beklemmung hervorrufen: nicht nur durch das Verbrechen, sondern auch durch die Begrenztheit auf ein und denselben Schauplatz, die daraus entstehende Stimmung und dieses wiederkehrend unheimliche Licht beim Eindunkeln …»

Inconnu 02

Guiraudie stellte schon in seinen früheren Werken sein Flair für den Genremix unter Beweis: So etwa im mittellangen Ce vieux rêve qui bouge, der Schelmenroman und Klassenkampf verbindet und den Jean-Luc Godard als besten Film der Cannes-Auswahl 2001 bezeichnete. Oder auch in Pas de repos pour les braves (2003) – einer Mischung aus Märchen und Western – rund um den traumwandlerischen Protagonisten Basile, der nicht einschlafen darf, weil ihn sonst der Tod ereilt. In L’inconnu du lac nun werden Komödie, Liebesgeschichte und Thriller bis hin zum Krimi miteinander verknüpft. Inhaltlich stand für Guiraudie dabei insbesondere eine Auseinandersetzung mit der Idee der sexuellen Befreiung im Zentrum – wie auch deren Scheitern. So äussert er im Gespräch subtil Kritik an einer Entwicklung, die mit einer Art utopischer Libertinage begann, im Lauf der Zeit dann aber den ursprünglich angestrebten Hedonismus zunehmend zum Konsumismus werden liess. Im Gegensatz zu seinen vorangehenden Filmen, wo die Komödie in der Regel Oberhand über das Drama gewann – sollte hier denn auch das Gegenteil stattfinden: Was als Idylle beginnt, wird im Lauf des Films zunehmend zum Inferno.

Am Ursprung von L’inconnu du lac stand für Guiraudie aber nicht zuletzt auch dieses eine und einzigartige Dekor, das der See und seine unmittelbare Umgebung bieten. Und in der Tat spielt fast die ganze Handlung in diesem reizvollen Huis clos mitten in der Natur. Der Kamera (Claire Mathon, die auch schon mit Sébastien Lifshitz und Catherine Corsini zusammenarbeitete) gelingt es dabei bildstark, die flirrende Sommerhitze einzufangen, den See, das Lustwäldchen (das seinem Namen alle Ehre tut) – und das in immer wieder den gleichen Einstellungen – ebenso wie die unaufgeregte Selbstverständlichkeit, mit der dieses kleine Universum präsentiert wird. Das gilt auch für die Sexszenen, die zwar durchaus explizit, aber nicht pornografisch aufdringlich erscheinen. Homosexualität stehe denn auch nicht unbedingt im Zentrum seines Films, sondern vielmehr Liebe und Begehren, Freundschaft und Beziehung in einem Sinn, der allgemeingültiger sei und alle betreffe – obwohl seine Erfahrung klar homosexuell sei, meint Guiraudie.

So dreht sich denn L’inconnu du lac auf unkonventionelle Weise um ein altes Thema und mauserte sich im Rahmen von «Un certain regard» des diesjährigen Festivals von Cannes zu einem kleinen Überraschungserfolg: Mit unprätentiösen Mitteln und einem kleinen Budget (eine Million Franken) erzählt er einen ebenso atmosphärischen wie originellen Plot, der nicht zuletzt auch dank seiner Schauspieler – insbesondere Pierre Deladonchamps als Franck und Patrick d’Assumçao als Henri, die ihre erste grosse Rolle in einem Kinofilm spielen – überzeugt.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/2013 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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