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Cure 01

Cure

Kroatien, Dubrovnik, 1993. Am Palmsonntag zu Beginn der Karwoche verlassen zwei Teenager unter einem Vorwand eine kirchliche Zeremonie. Linda, die in der Schweiz lebte, ist nach der Scheidung der Eltern dem Vater in dessen Heimat gefolgt, wo er als Spitalarzt arbeitet. Etas Papa wiederum ist im Krieg gefallen. Linda und Eta, die sich angefreundet haben, machen einen folgenschweren Ausflug ans Meer.

Text: Michael Lang / 05. Nov. 2014

Kroatien, Dubrovnik, 1993. Am Palmsonntag zu Beginn der Karwoche verlassen zwei Teenager unter einem Vorwand eine kirchliche Zeremonie. Linda, die in der Schweiz lebte, ist nach der Scheidung der Eltern dem Vater in dessen Heimat gefolgt, wo er als Spitalarzt arbeitet. Etas Papa wiederum ist im Krieg gefallen. Seitdem bildet das Mädchen mit der Mutter und einer psychisch versehrten Grossmutter eine Wohngemeinschaft. Linda und Eta, die sich angefreundet haben, machen einen folgenschweren Ausflug ans Meer.

So ist die Ausgangslage für ein feinsinniges Adoleszenzdrama der hochbegabten Filmschaffenden Andrea Štaka. Die Schweizerin mit kroatischen Wurzeln, 1973 in Luzern geboren, präsentiert nach Das Fräulein (Goldener Leopard Filmfestival Locarno 2006) endlich wieder ein Werk; es verbindet erneut intellektuelle Schärfe und gestalterische Kraft mit formaler Schönheit.

Angesiedelt ist der Plot nach dem Ende des Kroatienkriegs. Eta führt Linda an jenem Palmsonntagnachmittag an ihren Lieblingsplatz auf eine bewaldete Anhöhe über den Felsklippen am Mittelmeer. Es ist ein verwunschener, immer noch von Minen verseuchter, gefährlicher Ort. Die pubertierenden Frauen parlieren über sexuelle Erlebnisse, reale, herbeigesehnte und erfundene. Eta ist diesbezüglich erfahrener und provoziert die introvertiertere Linda keck. Sie bringt sie sogar dazu, mit ihr die Kleider zu tauschen, und schenkt ihr – quasi als Schwesternpfand – einen ihrer Ohrringe. Die Stimmung wird erregter, es kommt zu einer Balgerei, und nach einem Fehltritt stürzt Eta in die Tiefe, in den Tod. Unter Schock kehrt Linda in die Stadt zurück, bezichtigt sich bei der Polizei, für den Tod von Eta verantwortlich zu sein. Doch der Vorfall wird als Unfall eingestuft.

Linda sucht, von Schuldgefühlen geplagt, couragiert den Kontakt zu Etas Angehörigen, die sie, nachvollziehbar, mit verhaltenem Entgegenkommen empfangen. Doch sie kehrt wieder und spiegelt das Leben einer andern: Eta. Linda wird so wie zum Kristallisationspunkt eines Trauerarbeitsprozesses von Frauen, die drei Generationen repräsentieren. Kammerspielartig, ohne Pathos, fast nüchtern inszeniert wirkt das plausibel und ist natürlich Štakas Talent für Besetzung und Schauspielerführung geschuldet: Sylvie Marinković ist Linda, die faszinierende Protagonistin zwischen wegschmelzender Unschuld und Erwachsenwerden. Lucia Radulović spielt Eta, die Linda nach ihrem Tod wie in einem Traum erscheint und ihre Selbstfindung seismografisch kommentiert. Marija Škaričić (Das Fräulein) gibt Etas Mutter, eine leidvoll in sich versunkene Schneiderin, die durch die Begegnungen mit Linda wieder lebensfroher zu werden scheint. Und Mirjana Karanović (Das Fräulein) projiziert als Etas Grossmama handfest ihr ambivalentes Verhältnis zur verstorbenen Enkelin auf Linda. Und schärft damit deren Wachsamkeit gegen jegliche Vereinnahmung.

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Cure spielt an situativ fein verorteten Schauplätzen, die einen kokonartigen Mikrokosmos für die Handlung ergeben. Dazu kommen stimmungsgerechte Musik von Milica Paranosic sowie eine subtile Tonspur. Und natürlich die famose, elegante Kamera des Österreichers Martin Gschlacht, der in der postkartenidyllischen Mittelmeerszenerie immer wieder Einstellungen findet, die das omnipräsent Bedrohliche und das mysteriös Märchenhafte der Story verbildlicht, die historisch bedingt von Frauen dominiert wird; das Gros der jüngeren Männer ist emigriert oder im Krieg umgekommen. Dennoch gibt es zwei maskuline Charaktere in wichtigen Nebenrollen. Lindas Vater, der Tochter überfürsorglich zugetan, aber von ihrer trotzigen Eigenständigkeit überfordert. Und der machohafte Ivo, ein Militärveteran, der Etas Verehrer, vielleicht sogar ihr erster Liebhaber war. Als er Linda kennenlernt, macht er ihr den Hof. Doch als sich die zwei näherkommen, blockt er ab und zieht sich – von der Erinnerung an Eta übermannt – wie ein waidwundes Raubtier zurück. Durchaus zum Erstaunen von Linda.

Dies ist eine von vielen eindrücklichen, unerwarteten Sequenzen, was nicht überrascht: Das Absehbare, Klischierte, Effekthascherische ist Štakas Sache nicht. Sie hat das Drehbuch – autobiografisch motiviert – in Deutsch und Kroatisch verfasst, zusammen mit der Österreicherin Marie Kreutzer und dem Schweizer Filmemacher Thomas Imbach (Štakas Lebenspartner und Koproduzent von Cure). Und beherzigt wieder eine der vornehmsten Tugenden des Skriptschreibens: die Kunst der Reduktion, die nicht alles erklären und vorzeigen will, dafür auf Andeutungen, Zeichensetzung, Symbolik vertraut. Beispielhaft dort, wo auf den unweit immer noch weitertobenden Krieg verwiesen wird: Mal erscheint ein Riesenjet als dunkler Vogel am Himmel, mal ist das typische Geräusch eines Düsenjägers zu hören, mal künden Detonationen und Rauchpilze am Horizont vom Kampf.

Der Filmtitel Cure ist übrigens doppeldeutig, steht im Englischen für Begriffe wie Heilung oder Kur, im Kroatischen für Gören oder Mädels. Das passt auf dieses vexierbildhafte Entwicklungsdrama, bis zum Schluss: Die gereifte, in die Schweiz zurückgekehrte Linda führt am Neujahrstag nun selber eine Freundin auf eine Anhöhe, auf den winterlichen Uetliberg in Zürich. Sind die Signale dieses Mal anders gestellt? Vielleicht. Denn in Štakas kaleidoskopischem Geschichtenuniversum ist mit allem zu rechnen. So auch in dieser wunderhaltigen, universellen Parabel über die unberechenbare Sehnsucht nach dem lebens und liebesbejahenden Sein.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 7/2014 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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