Filmbulletin Print Logo
Mr turner 01

Mr. Turner

Er gilt als Meister des Lichts, als Maler der Elemente: Joseph Mallord William Turner (1775 – 1851). Turners Leben fällt in die aufregendste aller Perioden der britischen Kunst, er ist der Höhepunkt, vielleicht sogar der Inbegriff des romantischen Künstlers. Mike Leigh hat nun ein beeindruckendes, schillerndes Porträt des Künstlers inszeniert, mit einem bravourösen Timothy Spall als mürrischem altem Mann, dessen Genialität nicht immer im Einklang steht mit seinen Umgangsformen.

Text: Michael Ranze / 05. Nov. 2014

Er gilt als Meister des Lichts, als Maler der Elemente: Joseph Mallord William Turner (1775–1851). Turners Leben fällt in die aufregendste aller Perioden der britischen Kunst, er ist der Höhepunkt, vielleicht sogar der Inbegriff des romantischen Künstlers. In seinen Landschaftsbildern verband er Erde, Wasser, Luft und Feuer auf neue, ungewohnte Weise und lotete so ihre Beziehung zueinander aus. Besonders die Farben setzte Turner anders ein, mit einer bis dahin kaum gekannten Kraft und Reinheit. Mehr noch: Seine Landschaften, ob bei Sonne oder Unwetter, zeigen eine ungeheure Weite und Tiefe, der Betrachter wird von Turner und seiner Maltechnik geradezu in den Strudel der Naturgewalten hineingezogen. Und mit einem Mal sind wir bei den Bildstrategien des Kinos, in die sich der Betrachter ebenso fallen lassen kann, um ganz eigene Erfahrungen zu machen. Irgendwann musste sich ein Regisseur einfach dieses Malers annehmen.

Mike Leigh, der bereits 1999 mit Topsy Turvy in die Vergangenheit eintauchte, hat nun ein beeindruckendes, schillerndes Porträt des Künstlers inszeniert, mit einem bravourösen Timothy Spall als mürrischem altem Mann, dessen Genialität nicht immer im Einklang steht mit seinen Umgangsformen. Leigh hat dabei die letzten 25 Jahre im Leben des Künstlers im Blick. Der Film beginnt wahrscheinlich – es gibt keine Schriftzüge mit Zeitangaben – in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Turner kehrt soeben von einer Motivsuche in Belgien nach Hause zurück, das er mit seinem greisen Vater und einer Haushälterin teilt, die – von Dorothy Atkinson in ihrer Leidensfähigkeit und in ihrer Unbedeutendheit wundervoll gespielt – auch für flüchtige Liebesdienste zur Verfügung steht. Später wird der Zuschauer noch eine entfremdete Geliebte, zwei erwachsene Töchter und ein Enkelkind kennenlernen. Doch Turner schenkt ihnen – trotz ihrer existenziellen Sorgen – kaum Beachtung, von Anerkennung ganz zu schweigen. Turner ist, das wird in diesen kurzen Szenen deutlich, kein Familienmensch. Lieber geht er auf Reisen, um zu malen, bevorzugt in Margate, einem kleinen Küstenort im Südosten Englands, dessen raue Landschaft, unruhiges Meer und blauer Himmel viele seiner Bilder beeinflusst haben. Hier, in Margate, wohnt er unter falschem Namen im Haus der zweifach verwitweten Sophia Booth, die schon bald seine Lebensgefährtin werden soll. Ihre Beziehung wird rasch zum Mittelpunkt der Erzählung mit einem schönen, beiläufig dargebotenen Spannungsfeld: auf der einen Seite der komplizierte Künstler, der sich zwischen neidischen Kollegen und geschäftstüchtigen Galeristen in Londons Kunstszene bewegt, auf der anderen Seite die einfache Frau aus der Provinz, deren heitere Lebenstüchtigkeit und uneitle Liebesfähigkeit Turner in seiner letzten Lebensspanne ungewohnt erdet.

Mr turner 02

Um diese Beziehung herum zieht uns Leigh in prägnanten Vignetten in die Zeit, in der Turner lebt, in das Kunstgeschäft, dem er unterworfen ist, in die Kunst selbst, die sich von klassischen Formen hin zu mehr Abstraktheit bewegt und sogar schon den Impressionismus ankündigt. Turners Bilder werden denn auch in der Londoner Kunstszene, dominiert von der Royal Academy of Arts, kontrovers diskutiert: Es sei ja nichts mehr zu erkennen. Dazu gehören auch verbitterte, mittellose Kollegen, die nach Anerkennung gieren, oder Neider, die – in einer urkomischen Szene in einer Galerie, die von oben bis unten mit Bildern vollgehängt ist, damit sich niemand benachteiligt fühlt – nicht im Vorzimmer ausgestellt werden wollen. Turner ficht das alles nicht an. Mit Spucke bessert er einfach kleine Partien nach oder hinterlässt frech einen roten Fleck auf dem fertigen Bild, damit sich die Kollegen echauffieren, um später, bevor die Farbe trocknet, aus ihm ein wichtiges Detail zu zaubern. Es ist selten, dass – so wie hier – Leigh Turner bei der Arbeit zeigt. Gelegentlich ein paar hastig hingeworfene Skizzen, einige flüchtige Einstellungen vor der aufgestellten Leinwand, das ungeduldige Stapeln von Bildern im Atelier – mehr nicht.

Leigh geht es mehr um den Charakter dieses bedeutenden Mannes, seine inneren Kämpfe, die privaten Verstrickungen. Das bedeutet aber nicht, dass die Kunst hier keine Rolle spielte. Leigh und sein Kameramann Dick Pope lassen in atemberaubenden Breitwandbildern jene manchmal unwirklichen Landschaften entstehen, die Turner so beeindruckten. Ganz egal, ob in der Ferne eine Dampflokomotive vorbeizieht und eine dunkle Rauchfahne wie einen Schweif hinter sich herzieht oder Boote auf See im Abendrot vor sich hin schaukeln – Leigh, der sich in seinen sozial brisanten Dramen, von Secret and Lies bis Another Year, auf die Intensität seiner Darsteller und ihr Zusammenspiel konzentrierte, erweist sich als Meister des Bildes.

Trotzdem ist dies auch ein grosser Schauspielerfilm. Timothy Spall überzeugt als pummeliger, ruppiger, schwieriger und vor sich hin schnaufender, darum kaum zu verstehender Kerl, dem stets auch, besonders in den groben Sexszenen, etwas Animalisches anhaftet. Spall trägt Turners Gedanken nach aussen, er interpretiert Turner als Getriebenen, der seiner Leidenschaft und seinem Talent gehorcht und nicht aus seiner Haut kann, er zeigt seinen körperlichen Niedergang. Künstler und Kunst klaffen in diesem Film eigentümlich auseinander, manchmal wundert man sich, wie so ein Mann so virtuos malen kann. Dies ist der Widerspruch, den Leigh eigentlich interessiert, und Spall verkörpert ihn perfekt. Er hat aus William Turner einen Menschen gemacht.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 7/2014 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

Weitere Empfehlungen

Kino

17. Juni 2015

While We're Young

Josh und Cornelia, Mitte vierzig, hätten schon Grund, darüber nachzudenken, was sie wollen und was sie erreicht haben. Cornelia arbeitet für ihren Vater Leslie Breitbart, einen renommierten Dokumentarfilmer – aber nicht für ihren Ehemann Josh, der ebenfalls Dokumentarfilmer ist. Mit einem frühen Film hatte er Erfolg, doch seitdem arbeitet er am Nachfolgewerk, seit mittlerweile acht Jahren. Kreiste Noah Baumbachs Frances Ha um eine deutlich jüngere Protagonistin, nimmt er mit (dem allein geschriebenen) While We’re Young die Konfrontation von Jung und Alt aus Greenberg wieder auf.

Kino

24. Sep. 2014

My Name Is Salt

My Name Is Salt ist, wenn wir die Filmemacherin Farida Pacha selbst zu Wort kommen lassen, «ein beobachtender Dokumentarfilm über Menschen, die nach Perfektion streben, über ihre Hingabe zur Arbeit».