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Turist 01

Force majeure / Turist

Von Beginn an darf sich der normale Zuschauer unbehaglich fühlen. Das ist eine Situation, wie er sie kennt, und ein Foto, wie er es in seinem eigenen Fotoalbum hat. Irgendwie anders vielleicht, aber letztlich genauso. Mit diesem filmischen Bilderbuch-Entrée ist er gewarnt.

Text: Peter Kremski / 10. Dez. 2014

Eine Familie stellt sich in Szene und posiert für den Fotografen. Lachen nach Anweisung, da weiss jeder, was er zu tun hat. Ein Urlaubsfoto für das Familienalbum. Hoch oben in den Bergen bei Schnee und guter Laune – im Skiparadies. Ein normales Foto einer normalen Familie. Vater, Mutter und zwei Kinder, das eine ein Junge, das andere ein Mädchen – die perfekte Bilderbuchfamilie. Ein Bild mit Werbecharakter. Eine Familie macht PR in eigener Sache, alles ist gestellt, nichts daran ist echt.

Mit dieser Einstellung beginnt Ruben Östlunds analytische Familienstudie Force majeure. Das ist der internationale Titel des Films und Östlunds Wunschtitel (im schwedischen Original heisst der Film Turist). Höhere Gewalt spielt eine entscheidende Rolle, in doppelter Bedeutung, wie der Zuschauer schon bald erfahren wird. Vom Werbebild einer Familie in Sonne und Schnee wird am Ende nichts bleiben. Like ice in the sunshine it’s melting away. Östlund selbst spricht von einem «ski trip to hell».

Von Beginn an darf sich der normale Zuschauer unbehaglich fühlen. Das ist eine Situation, wie er sie kennt, und ein Foto, wie er es in seinem eigenen Fotoalbum hat. Irgendwie anders vielleicht, aber letztlich genauso. Mit diesem filmischen Bilderbuch-Entrée ist er gewarnt. In diesem Film geht es um ihn. Permanent wird er sich selbst infrage stellen müssen, um sich am Ende mehr oder weniger auf die Schliche zu kommen.

Und das Thema ist von Beginn an klar. Es geht ums Selbstbild, das man von sich fertigt, um sich selbst zu gefallen, und um die Rolle, die man spielt, um der Erwartung anderer zu genügen. Es geht um das, was man in unserer Gesellschaft Normalität nennt, also um Normen, Zwänge und vorgeschriebene Muster.

Östlund erzählt sein Familiendrama in fünf Akten – eine klassische Struktur. Fünf Tage eines Skiurlaubs, den eine schwedische Ikea-Familie in den französischen Alpen verbringt, jeder Tag sauber insertiert. Die Katastrophe passiert dann schon am zweiten Tag. Da sitzt die Familie auf der Aussichtsterrasse ihres luxuriösen Berghotels mit Blick auf eine schneebedeckte Steilwand. Eine Aussicht, die eher beklemmend als befreiend ist. Man sitzt inmitten anderer Hotelgäste, alle um Tische gruppiert, es ist Essenszeit. Der Junge fragt noch, ob es nicht vielleicht auch etwas Parmesankäse gebe, da geht die Schneelawine auch schon los, brettert auf die Terrasse zu, wo einigen in touristischer Routine mit ihren Handykameras noch ein paar sensationelle Schnappschüsse glücken, bevor allgemein die Panik ausbricht. Dem Vater unserer Bilderbuchfamilie gelingt die Flucht. Auch sein Handy kann er noch retten. Die Mutter bleibt zurück, um die Kinder zu beschützen. Dann geht alles in einem weissen Wirbel unter.

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Als sich das Bild wieder aufklärt, ist nichts passiert, alle sind noch da, der Himmel ist blau, die Sonne lacht freundlich, viel Lärm um nichts. Der Vater kehrt mit seinem Handy zurück an den Tisch, setzt sich in aller Ruhe hin, als sei nichts geschehen und die Welt noch in Ordnung. Doch Frau und Kinder sehen ihn jetzt mit anderen Augen an. Zwar war die Lawine kontrolliert, doch der Vater war es nicht. Die eigentliche Lawine geht jetzt erst los. Ein Schneegestöber mit Schneeballeffekt.

Der Vater wird zum Thema der Familie und anderer Hotelgäste, die in die Debatte einbezogen werden, denn er leugnet, die Flucht ergriffen zu haben, um sein Selbstbild als Mann und Vater krampfhaft aufrechtzuerhalten und vor den anderen nicht das Gesicht zu verlieren. Was folgt, sind Szenen einer Ehe in bester schwedischer Tradition, mit satirischer Schärfe, psychologischer Genauigkeit und wahrlich anthropologischer Komplexität. Wann ist der Mann ein Mann? Östlund gelingt es in seiner akribischen Verhaltensstudie, soziale Rollenmuster und traditionelle Genderklischees, die sich in zwanghaften Erwartungshaltungen verfestigen, aufzubrechen und infrage zu stellen.

Später wird sich die Mutter vom Vater absichtlich retten lassen, vor den Augen der Kinder, damit diese wieder an ihn glauben können. Bei einem nur noch widerwillig gemeinsamen Familienskilaufen im Nebel prescht sie voran, verschwindet im Nebel, die anderen bleiben zurück, um irgendwann ihren kläglichen Hilferuf zu vernehmen, dem der Vater pflichteifrig nachkommt. Wenn er aus dem Nebel zurückkehrt, trägt er sie demonstrativ auf Händen wie in einem Hollywoodfilm; er weiss, wie so etwas auszusehen hat. Eine Selbstinszenierung für Kinderaugen, ein abgekartetes Spiel und ein Lügenbild wie das heile Familienfoto zu Anfang.

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Am Ende wird es dann noch einmal eine kritische Gefahrensituation geben, in der sich die Verhaltensweisen überprüfen lassen. Am letzten Tag soll ein Bus die Hotelgäste zurück zum Flughafen kutschieren, Serpentinen abwärts, mit einem völlig überforderten Busfahrer, der die ganze touristische Gesellschaft in den Abgrund zu versenken droht. Jetzt ist es die Mutter, die die Nerven verliert und in Hysterie den Bus verlässt, die eigenen Kinder im Stich lassend. Alle anderen folgen ihr kurz darauf im Herdentrieb, bis auf eine Frau, die sowieso immer alles anders macht. Keiner aber stellt das Verhalten der Mutter infrage, weil man offenbar der Auffassung ist, dass das von Frauen gar nicht anders zu erwarten ist und sie damit dem Genderklischee und der Rollenerwartung voll entspricht, während der Mann Würde und Selbstwertgefühl verloren hat und so leicht nicht mehr zurückgewinnen wird.

Schuldgefühle, Scham, Selbstverachtung, das Bewusstsein, eklatant versagt zu haben (nachdem er das anfangs zu leugnen, zu ignorieren und zu verdrängen versuchte), führen zwischendurch zu seinem physischen wie mentalen Zusammenbruch: ein weiterer dramaturgischer Höhepunkt in der psychoanalytischen Struktur des Films. Jetzt löst sich eine innere Lawine, die sich nicht mehr kontrollieren lässt. Die unkontrollierbare Natur bricht sich Bahn. Die aufrechte Haltung klappt zusammen, er geht zu Boden, nur noch ein Häuflein Elend, nicht mehr Herr seiner selbst, nach der Selbstüberhöhung vom Sockel gefallen. Ein Strom von Tränen stürzt aus ihm heraus. Diejenigen, die ihn spontan trösten, sind die Kinder, mit denen er jetzt, zurück in einem kindlichen Urstadium, auf Augenhöhe ist. Sie sind noch fähig zur Empathie.

Seine Frau dagegen geht, peinlich berührt, auf Distanz. Das Bild, das ihr Mann bietet, entspricht ein weiteres Mal nicht ihrer Vorstellung. Vielleicht glaubt sie auch nicht, was sie sieht, weil er das vorher schon einmal probiert und vorgetäuscht hat. Nach all den falschen “Familienfotos” – kann man diesem trauen? Oder lügen Tränen doch?

Ruben Östlund ist ein Meister der subtilen und geduldigen Beobachtung. Er inszeniert das in unbarmherzig langen, meist statischen Einstellungen, oft auch weiten Totalen, um die Gruppenkonstellation und die Anstrengung des Zusammenseins zu erfassen. Da ist viel räumliche Distanz, Intimität sucht man vergebens, selbst in den Baderaumszenen gibt es sie nicht.

Die Inszenierungsweise erinnert an die Filme Roy Anderssons, von denen Östlund deutlich beeinflusst ist. Bei Anderssons Meisterwerk A Pigeon Sat on a Branch Reflecting on Existence war umgekehrt Östlund der Spiritus Rector, indem er den schwedischen Altmeister dazu bewegt hat, zum ersten Mal digital zu drehen. Das tut Östlund grundsätzlich. Er gibt den Bildern einen langen Atem und den Schauspielern die Möglichkeit, im Raum zu agieren, mit dem Körper zu sprechen, eine Szene realistisch auszuspielen, schneidet auch kein einziges betretenes Schweigen weg. Force majeure darf man ohne Einschränkung als ein weiteres Meisterwerk des digitalen Kinos betrachten. Und als Meisterwerk eines psychosozialen Realismus.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 8/2014 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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