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Mommy 01

Mommy

In Mommy prallen die Gegensätze aufeinander, und doch sind sie Teil eines Ganzen und ohne einander nicht denkbar. Xavier Dolan lässt die widersprüchlichen und intensiven Gefühle seiner Figuren in einem aufreibenden Auf und Ab pulsieren.

Text: Tereza Fischer / 10. Dez. 2014

In einem quadratischen Bildformat bewegt sich elegant im Wind ein weisser Slip an einer Wäscheleine. Lichtreflexionen und Unschärfe tauchen das Alltagswäschestück in eine Aura des Erhabenen und des Glücks; libidinöse Aufladung der Banalität in Grossaufnahme. Sie erhält unerhört viel Leinwandzeit, Zeit, auch dieses ungewohnte Filmformat auf sich wirken zu lassen. Hinter der Wäsche erscheint «Mommy», bewegt sich traumhaft durch die Szene. Der Filmtitel bestätigt die Vermutung: Mommy. In die nächste Szene bricht das Unglück als Schock ein. Vom Innern eines Wagens aus ist zu sehen, wie das vordere Auto unvorhersehbar von der Seite von einem anderen gerammt wird. In kurzen Einstellungen breiten sich Schreck und Bestürzung aus. Ein Hämmern bestimmt den Schnittrhythmus. Dann endlich gelingt es derselben Frau, die schon in der traumartigen Exposition zu sehen war, die verklemmte Autotür zu öffnen, verletzt, aber allemal im Stande, ordinär zu fluchen.

In Mommy prallen die Gegensätze aufeinander, und doch sind sie Teil eines Ganzen und ohne einander nicht denkbar. Xavier Dolan lässt die widersprüchlichen und intensiven Gefühle seiner Figuren in einem aufreibenden Auf und Ab pulsieren. Zusammen mit seinen drei grossartigen Darstellern Anne Dorval, Suzanne Clément und dem jungen Antoine Olivier Pilon kreiert er Figuren, die über psychologische Tiefe verfügen und die die Lücken ihrer Geschichten auf der Leinwand emotional füllen.

Mommy 02

Diane Després holt ihren fünfzehnjährigen Sohn Steve aus einer Anstalt für schwer erziehbare Jugendliche. Er ist nach einer Brandstiftung für die Institution untragbar geworden, nächste Station wäre eine geschlossene psychiatrische Anstalt. Diane liebt ihren Sohn und gibt nicht so leicht auf, obwohl die Vorzeichen für eine intakte Kleinfamilie schlecht stehen: Der Vater ist vor drei Jahren gestorben, Steve ist in seinen Wutanfällen unberechenbar, und Diane verliert zu Beginn der Wiedervereinigung gleich ihren Job.

War schon in Dolans Erstling J’ai tué ma mère von 2005 eine schwierige Mutter-Sohn-Beziehung das Thema, so lassen sich hier zwar einige Parallelen feststellen, aber der Hass des Sohns auf seine Mutter ist einer komplexen Vielschichtigkeit der Gefühle gewichen. Diane zieht sich an wie eine Achtzehnjährige und neigt zu entsprechenden verbalen Ausfällen, aber sie leidet unter der Situation und versucht, die endgültige Trennung von ihrem Sohn mit allen Mitteln zu verhindern. Die ödipale Beziehung zwischen ihr und Steve droht immer wieder ins Zerstörerische zu kippen. Steve ist in seinen Liebesbekundungen überbordend und genauso wenig zu halten, wie bei seinen gefährlichen Wutanfällen, dennoch sehnt er sich nach der verlorenen Zeit mit beiden Eltern zurück, wirkt verletzlich und verloren.

In diese Welt der impulsiven Gefühle gerät die Nachbarin Kyla, die mit Verständnis, Offenheit und ehrlicher Zuneigung als ausgleichender Pol die Leerstelle in der Familienkonstellation ausfüllt. Sie selbst hat die Nähe zu Tochter und Mann verloren, in einem Haus, das permanent nach Umzug aussieht. Die frühere Lehrerin hat nach einer nicht weiter erklärten traumatischen Erfahrung zu stottern begonnen. Nun findet sie durch die immer wieder ausbrechende Lebensfreude von Diane und Steve wieder zu sich. Doch die Glücksmomente müssen immer wieder Niederlagen weichen.

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Diese besondere Dreiecksbeziehung entfaltet sich im aussergewöhnlichen 1:1-Format. In zahlreichen Interviews danach gefragt, betont Dolan stets die Inspiration durch andere Künste und die Absicht, Konzentration der Aufmerksamkeit auf die Figuren zu lenken. In der Tat gleichen die Einstellungen oft fotografischen Porträts, ausgewogen und übersichtlich, um dann aber durch ungewohnte Detailaufnahmen durchbrochen oder mittels innerer Rahmung zu visueller Komplexität aufgeladen zu werden. Der Raum reduziert sich dabei auf ein Minimum. Die Emotionen strahlen aus den Figuren heraus, ohne Resonanz in der Umgebung zu finden. Sind mehrere Personen in einem Kader, erscheinen sie einander unentrinnbar nah, zu eng ist dieser Rahmen, um “gesunde” Distanz zueinander zu erlauben. Allein wirken die Figuren dagegen isoliert und ohne echten Bewegungsraum. Beides manifestiert sich insbesondere in den erschütternden Szenen gegen Ende des Films, als Steve gegen seinen Willen eingewiesen wird und ein Fluchtort visuell schlicht nicht vorhanden ist.

In den letzten Jahren sind bereits einige Filmemacher vom üblichen Breitwandformat zum 4:3-Standardformat zurückgekehrt, etwa Pawel Pawlikowski mit Ida, Kelly Reichardt mit Meek’s cutoff oder Gus Van Sant mit Elephant. Dolan nimmt sich nun die künstlerische Freiheit heraus, ein Format zu wählen, das es so in der Filmgeschichte nie wirklich gab – abgesehen von einer ganz kurzen Zeit nach der Einführung des Filmtons, als die Tonspur das Standardformat fast zu einem Quadrat verengte. Die willkürlich bestimmten Formate unterlagen aus wirtschaftlichen Gründen einer Standardisierung, denn solange das Zelluloid teuer war und die Aufnahme- und Abspielgeräte möglichst für alle Filme einsetzbar sein mussten, war völlige Freiheit zumindest teuer. Mit der Digitalisierung ist diese Einschränkung weggefallen, die künstlerische Unverfrorenheit, mit der der Fünfundzwanzigjährige ein möglicherweise als starr geltendes, aber unverbrauchtes Format einsetzt, ist dennoch bewundernswert. Wie spielerisch Dolan mit Film umgeht, zeigen die beiden Szenen, in denen er das Format vorübergehend breit werden lässt. Mit einer selbstreflexiven Bewegung drückt Steve in der ersten überraschenden Formatänderung die Ränder des engen Bildes auseinander: mehr Raum für die Fahrradfahrt des Trios, mehr Freiheit und Ausgelassenheit, die der sonst belastenden Enge der Mutter-Sohn-Beziehung fehlen. Die zweite Szene gehört gar ganz ins Reich der Phantasie.

Mommy 04

Unterstrichen werden Freiheitsgefühl und Illusion von Musik. Dolan setzt dabei aber keine extradiegetische Musik ein, sondern verortet die Songs jeweils auf dem «Die & Steve 4ever Mix», den der Vater einst für seine Familie zusammengestellt hat. Die Popsongs sind so aufs Engste mit der diegetischen Welt verknüpft. Sie sind mit dem Wissen gesetzt, dass sie bei den Zuschauern ganz unterschiedlich intensive und gefärbte Emotionen auslösen werden. Jede und jeder wird andere Assoziationen haben, wenn bekannte Popsongs, etwa «Wonderwall» von Oasis oder Céline Dions «On ne change pas», ertönen. Eine spielerische Abweichung von den selbst aufgestellten Regeln lässt sich wie beim Format auch hier finden: Als Steve zum ersten Mal seine Freiheit nach dem Heimaufenthalt geniesst, fährt er Skateboard und hört Musik. Was auf der Tonspur ertönt, ist nicht der Rap in Steves Kopfhörern, der sich vor allem durch seine Bewegungen vermittelt, sondern ein melancholisch-sehnsüchtiger Popsong. In der Überlagerung seiner eigenen Musik und der rückwärtsgewandten des fehlenden Vaters schwingt Steves Durcheinander der Gefühle.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 8/2014 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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