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Ida 01

Ida

Ida entsteht 2012 und kommt zum Schluss, dass sich die vorangegangenen Epochen neuerdings überblicken liessen, während von den eben begonnenen kaum noch etwas zu sehen sei. Der Film von Pawel Pawlikowski blendet ein halbes Jahrhundert zurück, in die frühen Sechziger mit ihrem zaghaften Wiederaufbau, um von dort einen Schritt weiter zu lenken: vor das Ende des Zweiten Weltkriegs.

Text: Pierre Lachat / 12. Mär. 2014

Da führt eine Rekonstruktion zur nächsten, und zwar auf dem Weg über eine dritte. Der Sog der Vergangenheit rafft alles mit sich und versperrt den Blick auf neuere Zeiträume, gerade auch solche, die sich erst auftun sollten. Aus heutiger wie historischer Sicht erscheint Polen als ein wieder und wieder zerrissenes und gekittetes Land, auf dem so vieles lastet: zumal die Perioden, da wechselnd Katholiken, Antisemiten, Stalinisten regierten. Parlamentarisch abgemilderte Phasen schlichen sich nur zögernd ein und verliefen sich wieder.

Eingeklemmt in die Religionen, auch die jüdische, vor allem aber zwischen die imperialen Grossmächte im Westen und Osten, wird das Land zum Spielball, Exerzierfeld und Durchzugsgebiet europäischer Einmarsch- und Expansionsgelüste. Wer immer Polen gerade wieder in Schach hält, verbessert die eigenen Aussichten merklich, zusätzliche Teile des Kontinents unter seine Verfügung zu bringen. So war es im zwanzigsten Jahrhundert; ob sich mit dem einundzwanzigsten dauerhaft etwas ändert, steht dahin.

Ida entsteht 2012 und kommt zum Schluss, dass sich die vorangegangenen Epochen neuerdings überblicken liessen, während von den eben begonnenen kaum noch etwas zu sehen sei. Der Film von Pawel Pawlikowski blendet ein halbes Jahrhundert zurück, in die frühen Sechziger mit ihrem zaghaften Wiederaufbau, um von dort einen Schritt weiter zu lenken: vor das Ende des Zweiten Weltkriegs. Damals häuften sich die Massaker im ganzen Land; innere und äussere Konflikte waren ineinander verkeilt.

Anna zum Beispiel, wie sie anfänglich genannt wird, ist als Kriegswaise unter Nonnen aufgewachsen und steht nunmehr davor, feierlich Treue, Armut und Keuschheit zu geloben. Ihre einzige überlebende Verwandte ist Wanda. Die Tante gab das Mädchen, deren Eltern und Bruder umgebracht und im Wald verscharrt worden waren, in kirchliche Obhut, damals wohl die einzig mögliche Lösung.

Intra muros, extra muros

Inzwischen versucht sie zu verhindern, dass die Nichte lebenslang hinter Klostermauern verschwindet und damit sozusagen unter ihrem Kopftuch, das eine Haartracht von lasziver Schönheit verdeckt. «Du bist also die jüdische Nonne», bekommt die einst Gerettete und jetzt Gekettete zu hören, erstmals in ihrem Leben. «Dein wahrer Name ist Lebenstein.» Die Priester und Ordensschwestern hatten damals Ida, wie sie eigentlich hiess, kurzerhand zur Christin erklärt; damit bewahrten sie das Kind vor den Nachstellungen durch Nazis und nationalistische Helfershelfer.

Nun machen sich Tante und Nichte auf Spurensuche, quer durch Provinzen, die auch unter den jetzt herrschenden Kommunisten noch den Geruch der früheren Verfolgungen und Vernichtungen atmen. Unterwegs zeigt sich, dass die beiden Frauen sich kaum stärker voneinander unterscheiden könnten. Wanda, die weltliche, genannt «die Rote», hat alles schon ausgekostet, und wenns nur Wodka, viel blauer Dunst und ein gelegentliches Betthupferl wäre; sie tituliert sich gleich selber als Nutte. Als Staatsanwältin und Richterin war sie befugt, Todesurteile gegen sogenannte Volksfeinde zu betreiben und zu fällen. Ida hingegen, die Gläubige, wähnt schon zu Lebzeiten in der verheissenen paradiesischen Ewigkeit zu weilen, fernab von allem, was von dieser Welt wäre.

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Praktische Umstände werden die ungleichen Zwei noch wochenlang verbinden, aber die Gegensätze können sie nur auseinanderbringen: Jüdinnen beide, die nie wirklich solche haben sein dürfen, weder geduldet noch integriert, geschweige denn frei in ihrer Wahl. Wanda schliesst, ihre Sorge um das tatsächliche oder vermeintliche Wohl ihrer Nichte habe das Ziel verfehlt. Ida wiederum, die jüngere, geht auf eine schwierige Entscheidung zu: zwischen «intra muros» und «extra muros». Das Entwederoder des Drinnen- oder Draussenseins, von Kopftuch oder Rotschopf wird ihr ganzes Leben bestimmen.

Das Vorbild für die schillernde Figur der Wanda will der Autor in den Achtzigern kennengelernt haben: Eine exilierte Polin, die rauchte, trank und scherzte und ihm warmherzig und grosszügig vorkam. Von England, wo sowohl er wie Helena Brus lebten, verlangte die Regierung in Warschau, sollte Pawel Pawlikowski später erfahren, die Auslieferung eben jener einen Frau, die in jüngeren Jahren eine stalinistische Staatsanwältin gewesen war; sie wurde inzwischen wegen sogenannter Verbrechen gegen die Menschlichkeit gesucht, allerdings vergeblich.

Tempi passati

Form und Handlung stützen einander auf eine Weise, wie sie im Kino selten gelingt. Das Schwarzweiss soll demjenigen der Jahre um 1960 entsprechen, als eben noch Zeit war, das Verfahren zu perfektionieren, da wurde es schon von der Farbe überholt. Anderseits sind es aber Graustufen von heute, also eher selten, und dazu möchten sie auch stehen: digitale nämlich und, wenn konsequent angewendet, unendlich differenziert.

Mit geringem Aufwand an Beleuchtung wechseln sie zwischen Hell und Dunkel, von Schwarz über Grau zu Weiss. Wo früher nur Scheinwerfer halfen, erscheinen plötzlich Glanzlichter, wie aus dem Nichts. Eine neu bearbeitete Kopie des über fünfzigjährigen Western High Noon etwa bringt es fertig, Gesichter, aber auch Räume zu modellieren, die im analogen Original viel flächiger wirkten. Gewiss, zu ihrer Zeit sahen die Bilder anders aus, aber von Fall zu Fall kann eine nachträgliche Verbesserung nur willkommen sein und ist sicher jedem Verlust vorzuziehen.

Bei Ida trägt auch das historische Seitenformat vier zu drei etwas dazu bei, die Illusion eines Kinostücks von anno dazumal zu erzeugen und damit, alles in allem genommen, echter auszusehen als echt: nach Art der Fälschungen, die früher oder später in die Authentizität zertifiziert werden wie die Restaurationen jahrhundertealter Fresken. Anders steht es um den Ton, indem er heute eine Reinheit erlangt, die bei den rauschenden Lautsprechern von 1960 etwas Unerhörtes war. Wem freilich jene unbeholfene Qualität nie zu eigenen Ohren gekommen ist, weil die Anlagen von damals inzwischen ausser Gebrauch sind, dem kann die Lauterkeit von heute nur billig sein, einerlei ob authentisch oder nachgebessert.

Die kristallklare Musik, italienische Schlager wie «Ventiquattromila baci», «Love in Portofino» und «Guarda che luna», dazu das lamentierende Saxofon von John Coltrane verdeutlichen nur noch, was die Dialoge vorgeben. Schleichend verändert Kultur aus dem Westen, immerhin an der Oberfläche, auch das Hinterland der osteuropäischen Staaten. Und nächstens beginnen die besten Jahre des polnischen Films, doch deutet Ida nur kurz darauf hin, etwa anhand eines Zitats aus Mutter Johanna von den Engeln von Jerzy Kawalerowicz.

Das Messer im Wasser von Roman Polanski wird bald einmal Massstäbe setzen, und etwas früher haben es auch die ersten Arbeiten von Andrzej Wajda getan: zum Beispiel Kanal oder Asche und Diamant. Gewiss: «Tempi passati». Doch wenigstens von der Leinwand her gesehen könnte das Polen des einundzwanzigsten Jahrhunderts eine Besinnung auf jene noch halb schummrigen, aber zu ihrer Zeit sehr wirksamen Beispiele dankbar ertragen. Auf dem Punkt insistiert Pawel Pawlikowski leise, doch vernehmlich genug.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2014 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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