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Suzanne 01

Suzanne

Man muss sich bei diesem Film der vierunddreissigjährigen Regisseurin und Drehbuchautorin Katell Quillévéré als Zuschauer auf vieles einlassen: auf das Hingeworfene der Erzählung, auf das Elliptische, auf das Lakonische, auf das Angedeutete, auf das Nicht-zu-Ende-Erzählte. Quillévéré hat für Suzanne so etwas wie eine filmische Stenografie entwickelt, die verkürzt, ohne hastig zu sein, die verknappt, ohne etwas zu vergessen.

Text: Michael Ranze / 23. Apr. 2014

Man muss sich bei diesem Film der vierunddreissigjährigen Regisseurin und Drehbuchautorin Katell Quillévéré als Zuschauer auf vieles einlassen: auf das Hingeworfene der Erzählung, auf das Elliptische, auf das Lakonische, auf das Angedeutete, auf das Nicht-zu-Ende-Erzählte. Quillévéré hat für Suzanne so etwas wie eine filmische Stenografie entwickelt, die verkürzt, ohne hastig zu sein, die verknappt, ohne etwas zu vergessen. Die Überfülle der Handlung, der zeitliche Rahmen von fünfundzwanzig Jahren werden ökonomisch auf vierundneunzig Minuten Laufzeit verteilt, nicht etwa gezwängt, wie man vielleicht meinen könnte. Hier hat alles seinen Platz und seine Zeit. Der Zuschauer ist gefordert, Zusammenhänge selbst zu erschliessen und Veränderungen zu bemerken. «Wir wollten eine sehr kraftvolle Off-Screen-Geschichte erschaffen», so die Regisseurin, «die die Zuschauer in aktive Teilnehmer verwandelt und es ihnen erlaubt, die Lücken in der Geschichte mit ihren eigenen Erfahrungen zu füllen.» Es ist diese Interaktivität, die Suzanne so besonders macht.

Der viel zu frühe Tod ihrer Mutter hat die beiden Schwestern Suzanne und Maria noch mehr zusammengeschweisst, sie sind ein Herz und eine Seele, ihre Kindheit verläuft glücklich. Emblematisch fungiert darum der Filmbeginn. Da tanzen Suzanne und Maria ausgelassen bei einer Schulaufführung, fröhlich fahren sie im Lastwagen des Vaters Nicolas nach Hause. Nicolas ist Fernfahrer, oft ist er gar nicht zu Hause und trotzdem schmeisst er, so gut es geht, den Haushalt. Um seine Töchter kümmert er sich ebenso aufmerksam wie liebevoll. Nur manchmal ist er ratlos und weiss nicht, wie er angemessen reagieren soll. Etwa, als Suzanne mit siebzehn verkündet, sie sei schwanger. Eigentlich will Nicolas in die Luft gehen, nur mühsam unterdrückt er seinen Ärger und sein Unverständnis. Er weiss aber auch, dass Suzanne seine Hilfe braucht. Als der kleine Charlie zur Welt kommt, gehört er darum wie selbstverständlich zur Familie, zumal der Film Charlies Vater gar keine Aufmerksamkeit schenkt. Und dann lernt Suzanne auf einer Pferderennbahn den Kleinganoven Julien kennen und verliebt sich Hals über Kopf. Mit einem Mal ist nichts mehr so, wie es vorher war. Das Mädchen brennt mit Julien durch, lässt Charlie einfach zurück, und auch die enge Beziehung zur Schwester ist gekappt. Aber Julien verstrickt sich immer mehr in kriminelle Machenschaften, über die uns Quillévéré im Unklaren lässt. Kurz vor der Überfahrt nach Nordafrika weigert sich Suzanne, weiter vor der Polizei zu fliehen. Unvermeidliche Folge: Sie wird verhaftet und muss für lange Zeit ins Gefängnis. Vorübergehend richtet der Film darum seinen Fokus auf Maria und Nicolas, der es vor lauter Schmerz nicht schafft, seine Tochter im Gefängnis zu besuchen.

Suzanne 02

Quillévéré hat sich für ihren Film von Frauen anregen lassen, die mit französischen Staatsfeinden (wie zum Beispiel Mesrine) und Verbrechern so stark verbunden waren, dass sie – mutig und entschlusskräftig – alles, aber auch alles für sie taten. Quillévérés Ausgangsfrage: «Warum stolperten sie über diese Männer und verliebten sie sich so sehr in sie, dass sie ihr Schicksal komplett mit dem der Männer verknüpften und für sie Sprengstoff ins Gefängnis schmuggelten oder lernten, einen Helikopter zu fliegen, um ihnen beim Ausbruch zu helfen?» Das macht Suzanne zu einem wuchtigen, anspruchsvollen und packenden Drama über Lebenssinn und Liebesglück, über Freude und Verzweiflung, über Schicksal, Zufall und Vorsehung. In Form einer Chronik stellt Quillévéré Fragen über den Verlauf, die Brüche und Veränderungen einer weiblichen Biografie, über den Zusammenhalt einer unvollständigen Familie und über das Wesen der Liebe. Nicht nur die zwischen Mann und Frau, die hier manchmal so stark ist, dass Suzanne in ihrer Phantasie von Julien heimgesucht wird, sondern auch die zwischen Schwestern. Suzanne und Maria sind auf schon fast symbiotische Weise miteinander verbunden – obwohl sie, in einer bewundernswert gezeichneten Ungleichzeitigkeit, manchmal gar nicht miteinander auskommen.

Der Film wäre nicht denkbar ohne Titelfigurdarstellerin Sara Forestier. Ein eigentümliches, nur schwer erklärbares Leuchten umgibt sie, das Lebensfreude und Energie signalisiert, gleichzeitig aber auch die düsteren Momente des Films aufhellt. Forestier spürt allen Facetten ihrer Figur nach, von Zärtlichkeit bis Leidenschaft, von Freude bis Trauer, von Wut bis Resignation. Suzanne – so heisst auch die junge Sandrine Bonnaire in Maurice Pialats A nos amours (1983), die sich auf der Suche nach Selbsterkenntnis und Lebenssinn in sexuelle Abenteuer flüchtet und darum auch mit dem Vater, dargestellt von Pialat selbst, hadert. Die Parallele zwischen den beiden Filmen ist Absicht, denn Pialat ist das grosse Vorbild von Quillévéré.

Stilistisch ist Suzanne, der elliptischen Erzählweise folgend, ein Film auf der Durchreise. Viele Szenen spielen an Autobahnraststätten, auf Parkplätzen, an Tankstellen, Hafenkais, im Auto, auf Schiffen, unterwegs. Im Gegensatz dazu die kleine, eng und statisch gerahmte Wohnung, die Auskunft gibt über die soziale Herkunft der Familie. Kein Wunder, dass Suzanne hier ausbrechen muss, mit ihrem grossen Bedürfnis nach Liebe, mit ihrem Lebenswillen, mit ihrer Lust auf eine andere Welt.

«And you want to travel with her / And you want to travel blind / And you know that she will trust you / For you’ve touched her perfect body with your mind.» Mit Nina Simones eigenwilliger Version von Leonard Cohen «Suzanne» klingt der Film aus, ein wunderschönes, schlichtes und anrührendes Ende, das noch lange nachwirkt.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2014 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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