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Boyhood 01

Boyhood

In der avancierten Kindheit und in den Rites de passage der Adoleszenz, diesem Häutungs- und Transformationsprozess, den wir alle durchlaufen, ruhig oder dramatisch, auf jeden Fall (hormonell) beschleunigt, wird für Augenblicke der Zeitfluss selber spürbar. «In a way, the film became a collaboration with time itself, and time can be a pretty good collaborator, if not always a predictable one», sagt Richard Linklater zu seinem neuen Film Boyhood.

Text: Martin Walder / 04. Juni 2014

In der avancierten Kindheit und in den Rites de passage der Adoleszenz, diesem Häutungs- und Transformationsprozess, den wir alle durchlaufen, ruhig oder dramatisch, auf jeden Fall (hormonell) beschleunigt, wird für Augenblicke der Zeitfluss selber spürbar. Im welschen Fernsehen gab es vor ein paar Jahren eine dokumentarische Grosstat, in der sieben Jugendliche aus Yverdon über die Zeitspanne von acht Jahren bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag durch ihre Pubertät begleitet worden sind. Vier Filme sind daraus geworden, die sieben Leben ineinander verwoben erzählen, sieben romans d’ados, so der Titel des Unternehmens. Romane, die mit dem Leben eben auch das Vergehen der Zeit erzählen und unmittelbar gestalten. Wie kein anderes Medium hat Film diesen aufregenden Zugriff auf die Zeit – sinnlich evident und reflektierend.

«In a way, the film became a collaboration with time itself, and time can be a pretty good collaborator, if not always a predictable one», sagt Richard Linklater zu seinem neuen Film Boyhood. Man könnte ihn als eine Art fiktives Pendant zu den Romans d’ados sehen. Ausgehend vom Plan eines Films über die Kindheit, entwickelte der stets experimentierfreudige Amerikaner mit risikofreudigen Produzenten die fortlaufende Geschichte eines Sechsjährigen namens Mason bis zum Highschool-Abschluss mit achtzehn. Insofern ist Boyhood, sozusagen im Singular erzählt, den Romans d’ados näher als etwa Linklaters eigener Bevore-Trilogie mit Julie Delpy und Ethan Hawke oder dem Klassiker der Langzeit-Fiction, Truffauts legendärer Antoine-Doinel-Serie, näher auch als der dokumentarischen 7-up-Serie von Michael Apted oder den grossen Langzeitstudien der damaligen Defa-Dokumentaristen Winfried Junge (Die Kinder von Golzow) und Volker Koepp (Wittstock): Alle arbeiteten sie dramaturgisch mit Zeitschnitten respektive Zeitpaketen.

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Boyhood also: Während beim Casting mit Patricia Arquette und Linklater-Star Ethan Hawke als (geschiedenes) Elternpaar erfahrene Kräfte an Bord geholt wurden und sich der Regisseur für die Rolle von Masons älterer Schwester Samantha mit seiner damals neunjährigen Tochter Lorelei immerhin auf eigenem familiärem Terrain bewegen konnte, war die Besetzung des Jungen im Grunde eine einzige Leerstelle. Der sechsjährige Ellar Coltrane, Bub eines texanischen Künstlerehepaars, hatte zwar schon ein, zwei Kameraerfahrungen gemacht – aber sonst? Wie und wohin würde er sich entwickeln – als Persönlichkeit, aber auch darstellerisch? Würde er disponibel bleiben?

Linklater muss einen phänomenalen Riecher gehabt haben. Während Tochter Lorelei ihren Dad zwischendurch gefragt haben soll, ob man ihre Figur nicht sterben lassen könne, verbürgt Coltrane Kontinuität. Die Interferenzen zwischen seiner eigenen Entwicklung und jener der Figur Mason jr. sind nicht Thema von Boyhood, aber im Hinterkopf läuft im dokumentierten Heranwachsen des jungen Akteurs jener “Film” natürlich immer als Frage reizvoll mit: Was hat Ellar selber erlebt, wo ist ihm Mason jr. bewusst geworden, wo ist er ihm am nächsten, wo am fremdesten? Wie hat die Filmarbeit ihn allenfalls mit konditioniert?

Äusserlich ist die Wandlung vom etwas verträumten Sechsjährigen zum jungen Mann physiognomisch einigermassen spektakulär. Kontinuierlich in seinem Habitus bleiben eine gelegentlich auch gar monochrom wirkende Reserviertheit und stille Beobachterposition, eher ein aufmerksames, später leicht skeptisch ironisch wirkendes Registrieren der Welt um ihn herum denn ein aktives Sicheinmischen. Das triste Familienpatchwork des von Linklater und seiner langjährigen Cutterin und Mitarbeiterin Sandra Adair entwickelten Szenarios passt freilich zur Haltung, auf unsere seltsame Welt erst mal abwartend zu reagieren. Wenn Mason wiederholt vorgehalten wird, endlich Verantwortung für sein Leben wahrzunehmen, hat man den Eindruck, auch in Ellars Persönlichkeit könnte da eine Saite angeklungen sein. Sind wir es, die im Vergehen der Zeit die entscheidenden Momente packen, oder packen diese nicht vielmehr uns? Mit dieser Frage lässt uns Boyhood nach 163 Minuten Spieldauer zurück, wenn Mason und ein Mädchen sich im Nationalpark so zögerlich annähern, dass man als Zuschauer den jungen Mann förmlich kneifen möchte, endlich zu handeln …

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Zwischen 2002 und 2013 hat sich das Filmteam einmal im Jahr für drei, vier Drehtage getroffen. Die Episoden – etwa zehn kalkulierte Filmminuten pro Jahr, was sich dann so nicht einhalten liess – wurden dann gleich montiert und die Geschichte für nahtlose Übergänge weitergesponnen. So etwa tauchen die wechselnden Ehemänner der Mutter jeweils bereits zuvor in Masons Leben auf, um dann ihre (durchwegs unerfreuliche) Rolle zu spielen. Samanthas und Masons familiäres Beziehungsfeld mit stets neuen Beziehungspersonen ändert sich wie Kleidung, Frisuren, Musik und Mobiliar, und auch die erwachsenen Schauspieler Hawke und Arquette werden sichtbar älter. Und natürlich ändert der Zeitgeist, und die politischen Ereignisse spielen in den Alltag hinein: des unseligen Bushs Irakkrieg, Obamas Kandidatur. Da ist dann auch Gelegenheit für komische Episoden, wenn Dad Mason und die Kids in den Nachbargärten die Werbepanels für Senator McCaine ausrupfen und entsorgen. Insofern ist Boyhood auch die Geschichte einer etwas zerzausten tapferen Alleinerziehenden wie eines linken Individualisten als Eltern und Vorbilder. Für Identifikationen aller Art ist gesorgt in diesem Singulär von Kinoroman, der nicht unbedingt als komplexe Reflexion, aber als kühne, reizvolle Demonstration der Zeitmaschine Film begeistert.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2014 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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