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Miele 01

Miele

Statt als hilfreich kann sich jede Hilfe als hinderlich erweisen, sobald sie eigennützig wird oder verträumt blauäugig vor lauter Selbstlosigkeit. Miele, sprich: Honig, so nennt sich die Heldin und tut es wohl in Anlehnung an jenes kitschige honey, das die amerikanische Alltagssprache einem jeden anhängt.

Text: Pierre Lachat / 30. Juli 2014

Statt als hilfreich kann sich jede Hilfe als hinderlich erweisen, sobald sie, etwa zufolge eines spitzen Kalküls, eigennützig wird oder verträumt blauäugig vor lauter Selbstlosigkeit. Miele, sprich: Honig, so nennt sich die Heldin und tut es wohl in Anlehnung an jenes kitschige honey, das die amerikanische Alltagssprache einem jeden anhängt, egal welchen Alters oder Geschlechts, solange er verspricht, Süsse oder Süsses zu verteilen. Der Name will Programm sein, versteht sich; Miele kündigt lindernde Wohltaten an, die da nächstens zu spenden seien. «Ich will ja nur helfen», bekräftigt sie mit Nachdruck; und wer keine Wahl hat, als ihr zu trauen, wird ihr glauben. Dabei darf er getrost übersehen, dass sie, eine Maklerin, bürgerlich Irene heisst, wie so viele andere, und zwecks Camouflage pseudonym arbeitet.

Frühreif wähnt die Protagonistin schon zu wissen, was gut oder schlecht sei für andere, noch bevor sie es bei der eigenen Person hat ermessen können. Miele ist überzeugt, heisst das, Hilfsbedürftigkeit zu erkennen und konsequent zu kurieren: Es wäre denn, da stünde ihre eigene auf dem Spiel. Erst nach einer Weile muss sie kapieren, dass etwas offensichtlich Notwendiges im konkreten Fall auch deplatziert sein kann, und zwar, vereinzelt, mit tödlichen Folgen.

So bewegt sie sich quer durch eine diffuse Grauzone zwischen Legalität und Gesetzesbruch, Barmherzigkeit und einem schnöden Profit, den sie einsteckt, doch ohne es eingestehen zu wollen. Denn Italien ist dem Vatikan auf Gedeih und Verderb ausgeliefert und verbietet von daher die Sterbehilfe nach wie vor. Miele aber versteht es, angesichts einer wachsenden Marktlücke, Ersatz anzubieten. Immerzu rührig, besorgt sie die erforderliche Medizin, die wohl eher ein Gift für überalterte Hunde ist, an der mexikanischen Nordgrenze und schmuggelt die ominöse Substanz abenteuerlich über Kalifornien bis nach Rom.

Zu Hause wird das Mittel veräussert und zur todsicheren Einnahme überlassen, und zwar an solche unheilbar Notleidende, die ihrer Frist auf Erden ein begleitetes Ende setzen wollen; sie tun es mit oder ohne Segen von Kirche und Staat und, notabene, unter Abwesenheit der Lieferantin, die sich stets vorzeitig vom Tatort wieder entfernt. Die Unrast hält indes Irene davon ab, der eigenen nagenden Zweifel und Verwirrung innezuwerden. In einem fort schwanken ihre Identitäten, wechseln Liebhaber und Komplizen. Medizinerin werden zu wollen täuscht sie nur vor, in Wahrheit liegt das Studium längst brach.

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Die Hilflosigkeit überwältigt Miele vollends an dem Tag, da ein Kunde, ebenso unstet wie sie selbst, ihre Dienste jählings zurückweist und es lieber noch einmal aufschiebt, unwiderruflich Schluss zu machen. Erstmals sieht sich die selbst ernannte Erlöserin jener tückischen, weil schwer fassbaren Volkskrankheit namens Depression gegenüber, die bald droht, auf die Wohltäterin selbst überzugreifen. Gelungene und misslungene Heilung, ein Ableben oder Davonkommen lassen sich gleichermassen schwer vorhersehen. Zudem hält sich hartnäckig die Meinung, Schwermütige seien lauter Simulanten, Drückeberger oder ganz einfach feige und willensschwach: ihre Krankheit mithin nichts als Einbildung.

Da muss sich die Heldin plötzlich der Aufgabe stellen, jemandes Leben zu verlängern, statt es zu beenden. Denn wer einmal, wie ihr einsamer, störrischer, verbitterter Kontrahent, ein gewisser Grimaldi, von Lebensmüdigkeit, Freitod oder eben unverblümt, und ganz kirchlich, von Selbstmord gesprochen hat, auf dem bleibt der Verdacht lasten, früher oder später werde er sich doch noch das letzte Leid antun. Wie immer Irene vorgeht, es bleibt nur die Wahl, sich wie gewohnt der Verantwortung zu entziehen, doch neuerdings unverrichteter Dinge, oder ausgerechnet jene zweischneidige Erlösung zu unterbinden, der sie bis dahin Vorschub geleistet hat.

Der Erstling von Valeria Golino flutet uns nie in Mitleid mit den körperlich oder seelisch Gebrechlichen; er sondert keine handliche Botschaft ab und meidet schlüssige Antworten so sehr wie wortreiche Expertisen und patentierte Verbesserungsvorschläge. Propagiert wird weder die Euthanasie, heisst das, noch deren Ächtung. Vielmehr ist es Sinn und Zweck einer Fiktion von solcher Art, den Zwiespalt, ja die Schizophrenie zu veranschaulichen, indem der verschlungene Themenbereich erkundigt und kartografiert wird.

Unmissverständlich scheint einzig und allein: Es geht um Leben und Tod, und das sogenannte Problem wirkt so wenig lösbar, wie ein Dafür oder Dagegen etwa bei Rüstung, Drogen, Schausport und Banken eindeutig und einseitig sein sollte. Wer immer sich berufen fühlt, alles unbesehen beim Alten zu belassen oder dann neue Regeln zu verordnen, seis hemmende, seis lockernde, läuft Gefahr, sich zu überfordern und die Schwierigkeiten auszuweiten.

Daher ist es gerade die Kargheit an Prinzipien, Ideen und Urteilen, die bei Miele besticht, weil sie einen Reichtum an Szenen begünstigt und die Empfindung für das Dilemma stärkt, das die Figuren allesamt ergreift: unvermeidlicherweise gerade dann, wenn sie einander widersprechen. Niemand im Saal soll am Ende wissen, wies die Filmemacherin nun aufgefasst haben möchte und was er eigentlich noch zu halten habe von der Sache: Es wäre denn, dass es da Erhebliches gibt, aus dem sich alle ein Gewissen machen müssten. Just die Unerfahrenheit der herbsüssen Miele und ihr Mangel an Orientierung und Entschlusskraft stecken an und nehmen dem Thema etwas von der argen Zentnerschwere, die ihm innewohnt.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/2014 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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