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The wind rises 01

The Wind Rises / Kaze Tachinu

Einer wie Hayao Miyazaki hört nicht einfach so auf. Mit The Wind Rises, seiner, wie er selbst ankündigte, vermutlich letzten Regiearbeit, schuf der 73-jährige Filmkünstler noch einmal ein Meisterwerk des Animekinos.

Text: Stefan Volk / 24. Sep. 2014

Einer wie Hayao Miyazaki hört nicht einfach so auf. Mit The Wind Rises, seiner, wie er selbst ankündigte, vermutlich letzten Regiearbeit, schuf der 73-jährige Filmkünstler noch einmal ein Meisterwerk des Animekinos. Zwar fielen die Zeichnungen zuletzt in Ponyo noch eine Spur ausgefeilter, nuancierter aus. Auch waren die Charaktere in Miyazakis früheren Filmen oftmals vielschichtiger angelegt, entwickelte sich der Plot abwechslungsreicher, packender. Der Oscar-prämierte Chihiros Reise ins Zauberland, Das wandelnde Schloss oder Prinzessin Mononoke wirkten insgesamt phantasievoller und visuell überwältigender. Dennoch strahlt keiner dieser wunderschönen Zeichentrickfilme eine derart tiefe poetische Kraft aus wie The Wind Rises.

Der zehnte Kinofilm des japanischen Regisseurs und Manga-Autors ist zugleich sein erster ohne Prinzessinnen, Schlösser, Hexen oder sonstige Fabelwesen. Es ist der mit Abstand realistischste Film Miyazakis. Dennoch steckt er voller Magie. So in sich stimmig, derart rund war kaum eine andere Produktion des 1985 von Miyazaki mitbegründeten Zeichentrickstudios Ghibli. The Wind Rises ist, mit anderen Worten, wohl der beste Film, den Miyazaki je inszenierte; mit ruhiger Hand, mit altersklarem, weisem Blick. Ein Wunderwerk des magischen Realismus. Zugleich aber ist The Wind Rises wegen eines fragwürdigen Umgangs mit der japanischen Vergangenheit auch Miyazakis umstrittenster Film.

Fast immer, wenn Miyazaki eine Geschichte erzählt, lässt er die Erde früher oder später unter sich zurück, hebt ab, entschwebt ins Reich der Träume und Phantasien, in eine Märchenwelt der Luftschlösser, in der sich Menschen zu auratischen, von Schicksalswinden getragenen Wesen verflüchtigen. Dass Miyazakis erster auf realen Geschehnissen basiernder Animationsfilm von der Luftfahrt und einem Flugzeugingenieur handelt, erscheint daher nahezu zwingend. Schliesslich stammt auch die Mangavorlage von Miyazaki. Inspirieren liess er sich dafür von einer Mitte der dreissiger Jahre verfassten Novelle des japanischen Schriftstellers Tatsuo Hori. Es überrascht auch nicht, dass Miyazaki seinen (historischen) Helden, Jirô Horikoshi, den er von der Kindheit an über mehrere Jahrzehnte hinweg begleitet, als einen introvertierten Visionär interpretiert, getrieben von einer unbändigen Hingabe zum Fliegen.

The wind rises 02

In seinen Träumen, die den Erzählverlauf immer wieder unterbrechen, zugleich aber beeinflussen und vorantreiben, begegnet Horikoshi dem italienischen Flugzeugingenieur Giovanni Battista Caproni. Während Miyazaki die von Katastrophen und Krieg geprägte Realität, in der Horikoshi lebt und arbeitet, in überwiegend getragenen bis düsteren Farben zeichnet, knüpfen die hellen, fröhlichen Traumfarben an die idyllischen Heidi-Landschaften aus Horikoshis Kindheit an. Der Untergrund ist in diesen Träumen ständig in Bewegung. Die Wiesen rauschen unter den Füssen davon. Selbst wenn er eigentlich auf festem Boden steht, scheint Horikoshi zu fliegen. In einem Traum rät Caproni dem kleinen Jirô, der wegen seiner Sehschwäche nicht Pilot werden kann, stattdessen doch Flugzeuge zu bauen. Horikoshi folgt dem Rat, aber anders als sein Traum-Caproni, der sich der zivilen Luftfahrt verschrieben hat, entwirft er Militärflugzeuge.

Die unverhohlene Bewunderung, mit der Miyazaki das von Horikoshi entworfene Jagdflugzeug vom Typ Mitsubishi A5M als einen ingenieurtechnischen Geniestreich und Erfüllung eines Lebenstraumes feiert, hat dem Regisseur den Vorwurf eingehandelt, die japanische Geschichte zu beschönigen, Kriegsschuld zu verharmlosen. Gegen Ende des von Mitsubishi Motors koproduzierten Films ist auch das Nachfolgemodell, die Mitsubishi A6M Zero, in einem Traum Horikoshis zu sehen. Ein Geschwader jener Flugzeuge, die am Angriff auf Pearl Habor beteiligt waren, zieht am Himmel über Horikoshi hinweg. Da weiss dieser schon, dass keiner der Piloten wieder zurückkehren wird. Solche Vorahnungen durchziehen den Film als blutroter Faden und prägen seinen eigentümlich melancholischen Grundton.

Das grosse Erdbeben von Kanto von 1923 inszeniert Miyazaki bereits im Gedenken an die Kriegskatastrophen von Nagasaki und Hiroshima wie eine gigantische atomare Explosionswelle. Auch die grosse und erfundene Liebe zwischen Jirô Horikoshi und Nahoko Satomi, die sich während des Erdbebens zum ersten Mal in Tokio begegnen, steht damit von Anfang an im Zeichen des Todes. Erst Jahre später, als Nahoko bereits unheilbar an Tuberkulose erkrankt ist, werden sie ein Paar. Es ist eine unwirkliche Liebe, deren fiktionalen Charakter Miyazaki auch durch einen geheimnisvollen Auftritt von Thomas Manns Romanfigur Hans Castorp aus «Der Zauberberg» hervorhebt. Sie symbolisiert ein dem Tode geweihtes Zeitalter, aber auch die mörderische Mission, der sich der im doppelten Sinne kurzsichtige Horikoshi in seiner (politisch) blinden Leidenschaft für den Flugzeugbau verschrieben hat.

Das alles lässt Miyazaki deutlich genug anklingen, um sich gegen den Vorwurf eines naiven Nationalismus verteidigen zu können. Als Horikoshi dienstlich im deutschen Vorkriegs-Dessau unterwegs ist, jagen die Nazis eine flüchtende Gestalt durch nächtliche Gassen. Die Frage aber, ob solche apokalyptischen Konnotationen und demonstrativen Szenen genügen, um eine zutiefst ehrfurchts- und liebevolle Hommage an einen Luftwaffeningenieur der Achsenmächte des Zweiten Weltkriegs zu rechtfertigen, ist wohl nicht abschliessend zu beantworten. Sie sollte aber zumindest in den Raum gestellt werden, will man sich nicht ebenfalls dem Verdacht aussetzen, man habe sich von der überwältigenden Ästhetik eines – in diesem Fall filmtechnischen – Meisterwerks moralisch blenden lassen.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/2014 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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