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Inherent vice 01

Inherent Vice

Anderson hat sich bisher als einziger daran gewagt, Thomas Pynchons Universum filmisch umzusetzen, konkret den gleichnamigen Roman «Natürliche Mängel». Er hat sich dabei weder von den etwa hundert nicht hierarchisierten Nebenfiguren oder dem erratischen Plot abschrecken lassen.

Text: Tereza Fischer / 21. Jan. 2015

Ein bisschen sieht er aus wie ein kleinwüchsiger, bekiffter Wolverine: Larry «Doc» Sportello, Privatdetektiv, der selten eine Waffe benutzt, aber ständig einen Joint in der Hand hält. Im Los Angeles des Jahres 1970 füllt sich die Luft um Doc herum mit Marihuanarauch, Paranoia und Halluzinationen – und als benebelt könnte man wohl auch die Bilder und Erzählung des Films charakterisieren. Um den Bildern einen ausgewaschenen, nostalgischen Look zu geben, verwendete Paul Thomas Anderson zum Teil altes, eigentlich durch Wärme unbrauchbar gewordenes Filmmaterial, das in den Nachtszenen für flaue Kontraste sorgt. Die etwas torkelnde Handlung ist schwierig zusammenzufassen, grob lässt sie sich auf Sex, Drogen und eine Krimihandlung gemischt mit Nostalgie und Slapstick reduzieren.

Ein Versuch, die Geschichte nachzuerzählen, sei trotzdem gewagt: Docs Odyssee beginnt mit dem überraschenden Auftauchen seiner Verflossenen, Shasta Fay Hepworth. Ihr Erscheinen gleicht fast einer Halluzination, denn Shasta übt eine ungebrochen grosse Faszination auf den hoffnungslosen Hippie aus. Er soll nun ihren Geliebten, den plötzlich freigiebig gewordenen Immobilien-Magnaten Mickey Wolfmann, finden, den dessen Ehefrau in einer psychiatrischen Klinik hat verschwinden lassen. Kurz darauf fehlt auch von Shasta jede Spur. Aufgeschreckt macht sich Doc auf die Suche und nimmt dabei weitere Fälle an, die er offenbar magnetisch anzieht. Im Lauf seiner Ermittlungen stösst er auf den Namen «Golden Fang» (etwa «goldener Reisszahn»), der ein Schlüssel zu sein scheint. So nimmt Doc verschiedene Fäden auf. Am Ende hat doch irgendwie alles miteinander zu tun, aber dann doch wieder nicht. Eine Chart-Übersicht über das Beziehungsgeflecht in diesem Fall hat noch in keinem Krimi so wenig Sinn gemacht wie hier. Dieser schwer nachvollziehbaren Handlung sind Politik und Musik als Gewürze beigemischt, die sich dezent im Hintergrund halten, doch dem Ganzen eine besondere Note verleihen.

Anderson hat sich bisher als einziger daran gewagt, Thomas Pynchons Universum filmisch umzusetzen, konkret den gleichnamigen Roman «Natürliche Mängel». Er hat sich dabei weder von den etwa hundert nicht hierarchisierten Nebenfiguren oder dem erratischen Plot abschrecken lassen. Den Humor und die Wehmut nach einer Zeit, in der die in den Sechzigern errungenen Freiheiten im Dauerdelirium dumpf nachklingen, lässt er in Inherent Vice in einer Abfolge aus skurrilen, aber atmosphärisch dichten und teilweise urkomischen Szenen entstehen. Wie schon Pynchon jongliert auch Anderson dabei mit Noir-Elementen. Doc Sportello erinnert auch an Sam Spade auf der Spur des Schwarzen Falken. Als typische Film-noir-Ingredienz erfindet Anderson zum Roman hinzu eine Voice-over. Die Doc-Versteherin Sortilège liefert (vermutlich unzuverlässige) Erklärungen über Docs Inneres und die Hintergründe seines Tuns.

Liessen sich Andersons Punch-Drunk Love oder Magnolia noch als Musical lesen, verschiebt sich hier das strukturierende Prinzip zum Dialog hin, was sich schon bei The Master feststellen lässt. In langen Gesprächen wird Rätselhaftes und Absurdes diskutiert, wobei Doc meist einen verwirrten Eindruck macht, der wohl nicht nur in seinem Rauschmittelkonsum gründet. Meist sind es lange Szenen, entweder als Hin und Her von Grossaufnahmen oder als lange Einstellung inszeniert. In beiden Fällen entfaltet sich ein vergnügliches Spiel mit Witz und nuanciertem Schauspiel. Die haarsträubende Erzählung einer Klientin, wie sie ihren Mann im Vollrausch auf einem Klo kennengelernt hat, möchte man jedenfalls nicht detailliert vor sich sehen – und sich eigentlich auch nicht vorstellen.

Inherent vice 02

Die meisten Gespräche führt Doc Sportello mit seinem “Kontrahenten”, dem Polizeilieutenant «Bigfoot» Bjornsen. Äusserlich könnten sie nicht unterschiedlicher sein, Bigfoot mit seiner scharf geschnittenen Frisur eines Marines und Doc mit wallender Mähne, Sonnenbrille und Strohhut. In vielen Gesprächen über den Fall entwickelt sich ein fast schon enges Verhältnis. Fand Doc an Anfang Bigfoots lustvolles Lutschen einer Schockobanane irritierend, ist er am Ende zu Tränen gerührt, als ihm der Polizist einen überraschenden Besuch abstattet, die Tür eintritt und sein Marihuana in sich hineinstopft. Ein echter Liebesbeweis.

Für das grösste Vergnügen in dieser bekifften Krimikomödie sorgt Joaquin Phoenix mit seiner Darstellung eines zwar schwer Drogenabhängigen (immerhin nur Marihuana), aber sympathischen Privatschnüfflers. Seine Verwirrung changiert dabei in vielen Variationen, sei es ob der widersprüchlichen Auskünfte zur Identität des geheimnisvollen «Golden Fang» – ist es ein Schiff oder ein Drogen- oder Dentistensyndikat? – oder ob der wortreichen Verführung der wiederaufgetauchten Shasta. Immer wieder gelingt ihm überraschend Komödiantisches bis zum Slapstick, der aber nie billig wirkt.

Der Witz dieses subtilen Wahnsinns zeigt sich am Anfang, als Doc auf der Suche nach Hinweisen die Chick Planet Massage aufsucht und ihn jemand mit einem Baseballschläger von hinten niederstreckt. Phoenix spielt das köstlich, wenn er noch in Fallen verzweifelt versucht herumzuwirbeln und dabei ausschaut, als würde er Fliegen verscheuchen. Doc wacht neben der Leiche von Wolfmanns Bodyguard auf, während vor ihm ein imposantes Polizei-Line-up steht – feierlich gerahmt von roten Fähnchen der Chick Planet Massage. Noch ganz benommen, wird er von Lt. Bigfoot Bjornsen mit Bugs Bunnys Worten: «What’s up Doc?» begrüsst.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2015 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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